Ruf der Drachen (German Edition)
entdeckte ich nicht. Ich wollte mich schon enttäuscht wieder abwenden, als ich direkt unterhalb des Sonnensymbols noch eine weitere Gravur erkannte. Sie war so abgenutzt, dass ich sie kaum entziffern konnte.
Ich brachte mein Gesicht ganz nah an den Wasserspeier und dann spürte ich, wie mein Pulsschlag sich erneut beschleunigte. Es war ein siebenarmiger Leuchter. Eine Menora! Und direkt daneben entdeckte ich etwas, das aussah wie hebräische Buchstaben. Angestrengt versuchte ich, sie zu entschlüsseln. Ich konnte ein wenig Hebräisch, für mein Studium der Judaistik war es Pflicht, aber die Gravur war so klein, dass ich einige Momente brauchte, um sie zu entziffern:
»Hier liegt begraben«, murmelte ich, während ich in Gedanken fieberhaft nach einer Erklärung suchte. Es war eine Inschrift, wie man sie typischerweise auf jüdischen Grabsteinen fand. Doch was sollte sie mir sagen? Wohl kaum, dass hier am Delfinbrunnen jemand mit jüdischen Wurzeln begraben lag!
Ich strich mit den Fingerspitzen über die Buchstaben. War das hier vielleicht die Botschaft? Sollten mich Menora und Inschrift zu einem weiteren Wasserspeier führen? An einen Ort, an dem Juden begraben waren? Ein jüdischer Friedhof also!
Ich betrachtete noch einmal die Gravur und stellte erstmals fest, dass einer der Sonnenstrahlen etwas stärker eingeprägt war als die anderen. Es war der Strahl, der senkrecht nach oben führte. Nach Norden also. War das ein Fehler in der Ausarbeitung? Oder ein weiterer Hinweis?
Ich zückte den Stadtplan, ließ den Blick über das Papier schweifen und zog dann unwillkürlich scharf den Atem ein.
Der Jüdische Friedhof in Weißensee! Natürlich!
Er lag so ausgestreckt im Norden der Stadt, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich auf den Gedanken kam, ihn zu besuchen.
Hastig steckte ich den Plan und das Notenpapier zurück in meine Tasche, schenkte dem Delfin einen letzten Blick und eilte dann zurück auf den Hauptweg des Volksparks. Ein beige-farbener Trenchcoat war weit und breit nicht zu sehen. Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich dem geheimnisvollen Mann wiederbegegnen würde. Wahrscheinlich schon bald.
***
Vogelgezwitscher – das war alles, was neben dem leisen Knirschen des Kieses unter meinen Schuhen noch zu hören war. Nachdem ich die Tore des Jüdischen Friedhofs hinter mir geschlossen hatte, schien sich eine neue Welt vor mir aufzutun. Doch neben der Ruhe, die allen alten Friedhöfen eigen ist, mischte sich hier noch etwas anderes in die Atmosphäre: eine sanfte Heiterkeit, die sich in den Lichttupfen der Oktobersonne auf den endlosen Wegen widerspiegelte.
Ich hatte mir am Eingang eine Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung, geliehen und sie aufgesetzt, bevor ich den Friedhof betrat. Es fühlte sich ein wenig fremd an und ich fragte mich, ob man mir wohl ansah, dass ich es nicht gewohnt war, die Traditionen zu befolgen. Ich stammte zwar aus einer jüdischen Familie, war selbst aber ohne Ausübung der Religion aufgewachsen. Meine Eltern hatten dieses Thema stets vermieden, was ich noch immer auf das mysteriöse Verschwinden meiner Großmutter zurückführte. Meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt gerade einmal vier Jahre alt gewesen war, hatte nie darüber gesprochen. Etliche Male hatte ich versucht, herauszubekommen, was geschehen war. Vergeblich.
Familiengeheimnisse sind in all ihrer Unsichtbarkeit uneinnehmbarer als Festungen. Unseres lag unter einem Sarkophag aus eisigem Schweigen, das niemand durchdringen konnte – bis heute nicht.
Trotzdem – oder gerade deshalb – faszinierten mich meine jüdischen Wurzeln. Der Entschluss, Judaistik zu studieren, war ein Teil davon, meine Liebe für Klezmer ein weiterer. Und am liebsten war es mir, ganz für mich allein herauszufinden, welche der Traditionen und Denkweisen für mich stimmig waren und welche nicht. Ich hatte den Eindruck, dass es in diesem Land selbst im Jahr 1988 noch lange nicht selbstverständlich war, jüdische Traditionen zu leben und selbstbewusst zu den Wurzeln zu stehen. So behielt ich meine Herkunft gerne für mich und empfand meine Reserviertheit nicht als sonderbar. Es war einfach eine Frage der Zeit, bis auch – oder gerade – in Deutschland jüdisches Leben wieder ganz selbstverständlich seinen Platz finden konnte. Diese Zeit schien noch nicht ganz gekommen zu sein.
Auf dem Weg nach Weißensee hatte sich meine Nervosität etwas gelegt. Dennoch war ich wachsam geblieben und hatte mich immer wieder vergewissert,
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