Ruf der Drachen (German Edition)
und tauschte den Pullover gegen ein Hemd. Mit einem schwarzen Jackett darüber sah ich einigermaßen annehmbar aus, was auch immer mich in der Gneisenaustraße erwartete. Schuhe, rasch noch Schlüssel und Geld einstecken – und schon war ich aus der Tür. Mit mir nahm ich das merkwürdige Gefühl, schattenhaften Ahnungen entgegenzugehen.
Nur keine Panik, Jakob. Du hast nichts getan.
***
Das Haus an der Gneisenaustraße war ein für diese Gegend typischer Berliner Altbau und wirkte mit seiner Beletage-Aura wie eine Reminiszenz an längst vergangene bessere Zeiten. Daneben lag eine Brache und ich konnte sehen, dass sich eine Fülle an Gebäuden und Höfen hinter dem Vorderhaus erstreckte. Auch dieser Teil Kreuzbergs war heruntergekommen, doch der alte Glanz strahlte noch deutlich nach.
Ich blieb vor dem Eingang stehen. Das schmiedeeiserne Tor war nicht besonders einladend und als ich den Blick darüberschweifen ließ, zuckte ich zusammen.
Von der linken Ecke herab musterte mich ein kleiner Drache, dessen schlanker, schuppenbedeckter Körper sich silbrig über das kunstvolle Metallgeflecht zog. Merkwürdig, dass ich plötzlich überall und immer wieder Drachen sah! Wenigstens war dieser hier kein Wasserspeier.
Ich strich mein Jackett glatt, atmete einmal tief durch und schritt dann durch den Eingang. Die Tür fiel knarrend hinter mir zu und sofort verschluckte mich schattige Dämmerung, vermischt mit dem Geruch nach altem Linoleum und verschwenderisch eingesetzten Reinigungsmitteln.
Nach wenigen Metern öffnete sich der düstere Gang überraschend in eine Art Atrium. Mein Blick wanderte hoch zur Decke, die kuppelförmig gewölbt und mit bunten Malereien verziert war, die ich nicht deuten konnte. War es das Abbild des Sternenhimmels?
Nicht nur, denn die Kuppel zierten merkwürdige Symbole ebenso wie unzählige Tiere. Ich sah einen Phönix mit brennendem Gefieder, einen roten Löwen, der majestätisch über das Firmament schritt, das dunkle Abbild des Planeten Saturn – und erneut einen Drachen, dieses Mal mit grünem Körper, der das gesamte Rund umspannte. Ich starrte eine Weile auf das Bild und versuchte, die Symbolik zu verstehen, doch ich scheiterte kläglich. Ich konnte damit einfach nichts anfangen.
Vielleicht hätte ich Max mitnehmen sollen , dachte ich zynisch, dann hätte er den Kinnhaken wiedergutmachen können. Aber wahrscheinlich wäre er keine große Hilfe gewesen. Hier ging es höchstwahrscheinlich nicht um philosophische Feinheiten. Oder doch?
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ich wirbelte herum. Dicht hinter mir stand ein Mann und die Tatsache, dass ich weder gemerkt hatte, wie er sich mir näherte, noch einen einzigen seiner Schritte gehört hatte, schnürte mir für einen Moment die Kehle zusammen.
Der Fremde trug einen dunklen Anzug und sein dünnes blondes Haar lag dicht an seinem Kopf an. Er musste etwa sechzig Jahre alt sein, doch der Eindruck dieses Alters konnte sicher auch durch die ebenso akkurate Kleidung wie die förmliche Haltung entstehen. Er stand so gerade, dass ich beim bloßen Anblick Rückenschmerzen bekam. Sein Blick ruhte abwartend auf mir. Ich merkte, dass er die inzwischen grün-gelbliche Verfärbung an meinem Kinn registrierte, doch er ließ sich in keiner Weise anmerken, was er davon hielt.
Ich griff in meine Jackentasche und zog das Schreiben heraus. Das rätselhafte Deckengemälde hatte mich so gefesselt, dass ich meinen Termin vollkommen vergessen hatte! Unruhig sah ich mich um und entdeckte in einer Ecke des Atriums eine große runde Uhr mit altertümlichem Ziffernblatt. In diesem Moment schlug sie zweimal. Es war halb zwölf.
»Pünktlichkeit wird hier gern gesehen«, sagte der Mann, ohne auch nur einen Blick auf den Brief zu werfen, den ich ihm hinhielt. »Folgen Sie mir.«
Damit drehte er sich um und steuerte auf eine der beiden Treppen zu, die in ausladenden Bögen aus der Eingangshalle in den ersten Stock führten. Ich zögerte einen Moment, dann ging ich ihm nach. Das Treppengeländer aus dunklem Holz war mit unzähligen Verzierungen versehen und einmal mehr glaubte ich, zwischen Blüten und Ranken auch den einen oder anderen Drachenkopf zu erkennen.
Der dicke dunkelrote Teppich verschluckte jedes Geräusch. Ich spürte leichte Panik in mir aufsteigen, während ich wie auf Watte lief.
Der Mann vor mir drehte sich um.
»Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Ich nickte stumm, denn der Kloß in meinem Hals erlaubte keine Antwort. Woher wusste dieser
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