Ruf der Drachen (German Edition)
auch? Maren war gut in der Konstruktion von Fassaden – und ich war hoffnungslos verliebt. Eine Kombination, die niemals gut ausgehen kann. So sehr man auch hofft, es könnte anders sein.
KAPITEL VI
Am nächsten Morgen schlurfte ich noch im Halbschlaf die knarrende Treppe hinunter zum Briefkasten. Ich war bis spät in die Nacht bei Maren gewesen, dann aber doch zu mir nach Hause gefahren, anstatt bei ihr zu übernachten. Wir hatten nach unserer Aussprache beschlossen, es langsam angehen zu lassen. Und genau das taten wir jetzt. Auch wenn es uns beiden irgendwie merkwürdig erschien, Abmachung war Abmachung.
Als ich die Morgenzeitung aus dem Schlitz zog, flatterte ein Brief mit heraus. Ich hob ihn auf und musterte ihn verwundert. Er war an mich adressiert, was merkwürdig genug war, denn normalerweise erhielt ich keine Post. Ich hatte aus meiner Schulzeit nur wenige Freunde, zudem eine kleine, wenig schreibbegeisterte Familie – und außer diesen wenigen Menschen wusste niemand, wohin ich gezogen war. Doch noch seltsamer war die Tatsache, dass auf dem Brief kein Absender stand.
Ich wog die Sendung vorsichtig in der Hand. Der Umschlag bestand aus edlem, schwerem Papier und fühlte sich fast ein wenig samtig an, wenn man mit den Fingern darüberstrich. Definitiv kein Werbebrief.
Ein merkwürdiges Gefühl befiel mich, als ich den Brief zu der Zeitung legte und mit beidem wieder in den vierten Stock hinaufstieg. Im Treppenhaus begegnete mir Emilie Wimschneider, eine Nachbarin, die in der Wohnung unter Max und mir lebte. Ihren freundlichen Gruß erwiderte ich mit einem abwesenden Nicken.
Kaum hatte ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen, ließ ich mich auf einen unserer Küchenstühle fallen und betrachtete den Brief erneut. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Albern. Was sollte schon sein? Es war nur ein Brief. Wahrscheinlich unwichtig. Aber tief in meinem Inneren wusste ich schon in diesem Moment, dass es so einfach nicht sein würde. Ich war in Ostberlin gewesen. Und irgendetwas hatte sich seitdem verändert.
Meine Hände zitterten leicht, als ich das feste Papier aufriss und den Briefbogen aus dem Umschlag zog. Ich entfaltete das Blatt und begann zu lesen.
Sehr geehrter Herr Roth,
hiermit fordern wir Sie auf, am Dienstag, dem 11. Oktober 1988, um 11.30 Uhr, zum persönlichen Gespräch in der Gneisenaustraße 81 d zu erscheinen.
Sollten Sie dieser Vorladung nicht nachkommen, werden wir zeitnah weitere Schritte einleiten.
Mit freundlichen Grüßen,
Gunnar Thiel
Akademierat
Verwirrt ließ ich das Blatt sinken.
Eine Vorladung? Warum? Wer war dieser Gunnar Thiel und was bedeutete »Akademierat«?
Der fremde Mann in Ostberlin fiel mir wieder ein. Die Art, wie er mich beobachtet hatte. Und die Informationen, die er mir gegeben hatte, sodass ich von einem Wasserspeier zum nächsten hatte gelangen können – bis die Quellen im wahrsten Sinne des Wortes versiegten.
Konnte diese rätselhafte Vorladung damit zu tun haben?
Das würde erklären, weshalb ich mich auch hier in meiner gewohnten Umgebung beobachtet fühlte. Sobald ich das Haus verließ, war da dieses unangenehme Prickeln in meinem Nacken. Doch niemals hatte ich jemanden bemerkt. Es war kein gutes Gefühl und ich hatte Maren wohlweislich nichts davon gesagt. Ich war froh, dass wir beide einen Weg gefunden hatten, und das wollte ich nicht durch unbewiesene Vermutungen aufs Spiel setzen. Vielleicht bildete ich mir das alles auch nur ein, seit meinem Ausflug in das Land jenseits der Mauer war ich ein wenig überspannt. Dieser Brief sprach allerdings nicht gerade dafür …
Ich starrte einen Moment aus dem Fenster und versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen. Was, wenn ich den Termin ignorierte? Wenn ich einfach nicht hinging? Man würde mich wohl kaum mit Polizeigewalt abholen, schließlich hatte ich nichts getan. Erneut überflog ich die Zeilen.
… werden wir zeitnah weitere Schritte einleiten.
Mein Magen zog sich zusammen. Das klang nicht gut. Und vor allem nicht nach einem Termin, den man ungestraft ignorieren konnte.
Ich blickte auf den Kalender und mein Herz machte einen Sprung. Der 11. Oktober – das war heute!
Ich sprang auf.
Es war bereits kurz vor elf und wenn ich mich beeilte, konnte ich in einer halben Stunde am vereinbarten Ort sein – allerdings ungeduscht.
Egal! Ich stürzte ins Bad, klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht und schlüpfte hastig in Jeans und Pulli. Nach einem Blick in den Spiegel änderte ich meine Meinung
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