Ruf der Dunkelheit
bei ihr.
Es konnte gar nicht anders sein – immerhin war sie seine erste und offenbar auch einzige, wahre Liebe. Für sie war er damals in den Tod gegangen – doch obwohl seine menschliche Hülle gestorben war, schien es so, als hätte die Liebe zu ihr, in seinem Herzen überdauert. Dagegen kam wohl nicht mal die besondere Bindung an, die, wie ich gehofft hatte, uns für immer verbinden würde.
Ich blieb noch eine Weile in meiner kauernden Position sitzen und ließ den schmerzvollen Gedanken in meinem Kopf freien Lauf. Die Kälte fraß sich weiter durch meine Knochen und ergriff gierig Besitz von meinem Körper. Ich konnte mir nicht erklären, woher dieses eisige, klamme Gefühl kam, dass mir den Brustkorb immer enger schnürte. Steif erhob ich mich aus der kleinen Mulde unter dem Baum, in der ich eine ganze Nacht und einen halben Tag verbracht hatte. Es war wie ein innerer Impuls, der mich dazu zwang, aufzustehen – loszulaufen. Und ich setzte mich in Bewegung. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich das wirklich wollte.
Doch mit jedem Meter, den ich in Richtung des Sees lief, an dessen Ufer Max´ Blockhütte stand, bekam ich das Gefühl, klarer zu sehen. Etwas schien mich zu rufen. Eine innere Stimme, die mir verheißungsvolle Dinge zuflüsterte. Ich würde ihn mir zurückholen – Max! Und obwohl ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte, ihn zu suchen, vertraute ich auf diese innere Stimme, die mir sagte, ich solle nur nach Boston fliegen – alles andere, würde sich von ganz allein ergeben. Es waren tröstende Worte, die dort in meinem Kopf widerhallten. Sie schenkten meinem frierenden Körper ein Fünkchen Wärme. Eilig lief ich durch das Unterholz, durch das ein pfeifender Wind blies. Ich wich geschickt den peitschenden Ästen aus und konzentrierte mich ganz auf mein Vorhaben. Mich kümmerte es nicht, was die anderen zu meinen Plänen sagen würden, denn ich hatte auch gar nicht vor, sie einzuweihen. Mittlerweile war ich mir sowieso nicht mehr sicher, ob sie überhaupt auf meiner Seite standen. Ich vertraute ihnen nicht mehr – nicht nach dem, was sie mir verschwiegen hatten. Sie wollten mich hinhalten, aus welchem Grund auch immer! Doch meine innere Stimme versicherte mir, dass ich ihre Hilfe nicht benötigen würde. Und ich glaubte ihr.
Als ich das Haus erreichte, blieb ich kurz stehen. Mein Blick ruhte auf der Veranda, auf der Tamara unruhig hin und her tigerte. Langsam setzte ich mich in Bewegung und lief direkt auf sie zu. Als sie mich bemerkte, weiteten sich ihre Augen. „Val! Meine Güte, wo bist du denn gewesen?! Wir haben uns solche Sorgen gemacht!“ Eilig trat sie auf mich zu und musterte mich voller Besorgnis. Kurz streifte mein Blick ihre Miene. War das echt? Die Sorge um mich – oder gab sie das nur vor?
Ohne ein Wort zu erwidern, lief ich an ihr vorbei und trat durch die Haustür. „Val? Was … was ist denn los?“, erklang Tamaras irritierte Stimme hinter mir, als sie mir folgte. Ich ignorierte Julian und Olivia, die beide aus dem Wohnzimmer eilten und stieg die Treppe nach oben, um ein paar Sachen zu packen. Nur das Nötigste, ein kleiner Koffer würde mir reichen.
Ich griff unter das Bett, zog den kleinen Trolley hervor, der Dank seiner geringen Maße als Handgepäck durchging und warf Geld, meinen Reisepass und ein paar Kleidungsstücke hinein. Ich zog gerade den Reißverschluss zu und hob den Koffer vom Bett, als sich Tamara in der Tür aufbaute; flankiert von ihrem Gefährten und Melissas Tochter. Sie hatte die Arme verschränkt und hob eine Augenbraue, als sie mich beobachtete. „Valentina, was machst du da?“ Ihr Ton zeugte von Unglauben und auf ihrer Stirn erschienen tiefe Furchen. Ich erhob mich langsam und trat an sie heran, unsere Gesichter waren einander so nahe, dass ich ihren Atem fühlen konnte. Meine Stimme war ruhig und gefasst, als ich ihr antwortete: „Etwas, das ich schon lange hätte tun sollen, ich gehe – und niemand wird mich davon abhalten.“
„Val, was soll der Blödsinn – wo willst du überhaupt hin?“ Tamara konnte ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen. „Das wird nicht länger dein Problem sein“, erwiderte ich und blickte über sie hinweg, zu Julian und Olivia. „Und eures übrigens auch nicht.“ Ich schob mich an Julians Gefährtin vorbei und lief die Treppe hinunter. „Val, jetzt warte doch mal!“, rief Tamara mir hinterher, als sie mir nachrannte. „Wir wollen Max doch auch zurückholen, aber …“
Langsam aber stetig
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