Ruf der Dunkelheit
streifte ich durch den Wald, setzte mit Bedacht einen Fuß vor den anderen, um mich ihnen so leise wie möglich nähern zu können. Ich wusste, Tamaras Gehör war so fein, sie würde es sofort merken, sollte ich durch einen unüberlegten Schritt ein verräterisches Geräusch verursachen. Immer wieder blieb ich stehen und lauschte in die Dunkelheit hinein.
Da vernahm ich gedämpfte Stimmen. Ich blieb stehen und ging in die Hocke, um abzuwarten.
„Du-du meinst, sie sind zusammen? Und … er ist freiwillig bei ihr?“, ertönte Julians ungläubige Stimme. Bei seinen Worten schlug mein Herz unwillkürlich schneller, während mein Magen sich schmerzhaft zusammenkrampfte. „Ich weiß es nicht, ob er freiwillig dort geblieben ist. Aber …“ Tamara verstummte und ich konnte hören, wie sie seufzte. „aber der Moment, den ich durch seine Augen miterlebt habe … es wirkte … so vertraut, so innig.“ Ich presste meine Kiefer so fest aufeinander, dass es leise knirschte. Meine Nasenflügel bebten, als ich die Tränen wieder zurückdrängte. Nein! Nein, es konnte nicht sein – sie redeten bestimmt nicht über Max! Das war völlig unmöglich!
Ich konnte mich gerade so weit beruhigen, dass ich hörte, wie Julian schnaubte, ehe er erwiderte: „Fassen wir also zusammen: So wie es aussieht, ist Margaretha, die ich vor Ewigkeiten getötet habe, am Leben und sie hat sich Max zurückgeholt?“
Es waren die letzten Worte die ich vernahm, bevor mein Verstand aussetzte, denn was dann folgte, lässt sich kaum in Worte fassen. Die Enge, die meinen Brustkorb plötzlich zuschnürte, ließ mich taumeln, als ich versuchte, auf die Beine zu kommen. Keuchend sog ich Luft ein. Es war mir in diesem Moment egal, dass die beiden mich jetzt womöglich entdeckt hatten. Ich wollte nur eines: weg! Sofort!
Ohne mich umzusehen, stolperte ich vorwärts. Ohne zu wissen wohin, rannte ich einfach los. Durch den Tränenschleier verschwamm die Umgebung um mich herum, doch ich lief einfach weiter. Mein Herz hämmerte so verzweifelt gegen meine Rippen, dass ich mein zirkulierendes Blut in meinen Ohren dröhnen hörte.
Warum?!,
schrie alles in mir! Warum nur?! Wie konnte es sein, dass sie noch am Leben war?! Und warum um alles in der Welt nahm sie sich das Einzige, das ich so sehr liebte! Sie hatte sich meinem Gefährten bemächtigt und damit einen Teil von mir zerstört! Mit einem Mal fühlte ich mich so unendlich leer. Ich war nichts, als eine leere Hülle, die versuchte, vor der grausamen Wahrheit davon zu laufen, um nicht das letzte bisschen Verstand zu verlieren. Das Laub unter meinen Füßen raschelte und die Luft um mich herum surrte, als ich wie von Sinnen durch das Unterholz hetzte.
Ich sah Max´ Gesicht vor mir, sein Lächeln, seine warmen Augen …
Plötzlich stolperte ich, es fühlte sich an, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Ich fiel vornüber auf die Knie, fing mich gerade noch mit den Handflächen ab, bevor ich mit der Nase in das nasse Laub auf dem Boden tauchte. Mein Atem ging schnell und flach und weil es angefangen hatte zu regnen, klebten mir feuchte Haarsträhnen an der Stirn.
Und dann schrie ich es heraus! Meine ganze Verzweiflung, die Wut über meine Ohnmacht! Ich krümmte mich, wischte mir schniefend mit meinem erdigen Jackenärmel über das Gesicht und lehnte mich keuchend rücklings an einen Baumstamm. Noch immer weinte und schluchzte ich, denn der Strom meiner Tränen wollte einfach nicht versiegen. Ich nahm meine Umgebung kaum noch wahr, verkroch mich in meinem Körper und schlang bebend die Arme um meine Knie. Zwar konnte ich eigentlich gar nicht frieren, dennoch kroch ein Gefühl der Kälte in mir hoch und jagte mir zitternde Schauer durch die Glieder.
Ich dämmerte mit halb geschlossenen Lidern vor mich hin, als von den faulenden Blättern des Waldbodens dampfende Nebelschwaden aufstiegen und der Himmel über mir langsam heller wurde.
Ein neuer Morgen brach an. Ich hatte die ganze Nacht an dem Baum gesessen und den dumpfen Schmerz ertragen, der von mir Besitz ergriffen hatte. Ein neuer Tag kündigte sich an, ein weiterer Tag, den Max wahrscheinlich in ihren Armen verbrachte. Bei dem Gedanken daran, stieg Übelkeit in mir auf. Ich würgte und hustete und rang nach Luft, als mir schmerzlich bewusst wurde, dass ich ihn verloren hatte. Julian hatte es mit Unglauben in der Stimme ausgesprochen, doch ich musste die Tatsache wohl oder übel zu meinem Verstand vordringen lassen. Er war freiwillig
Weitere Kostenlose Bücher