Ruf der Dunkelheit
klingen mussten, doch sie nickte, wie in Trance. Dann räusperte sie sich und straffte die Schultern. „Danke, dass ihr ihn nicht einfach dem Wind überlassen habt.“
Daria trat an die Glasfront und blickte einen Moment lang stumm über das Häusermeer. „Aber ich bin mir sicher, dass er eingesperrt in dieses Ding, keine Ruhe finden wird. Er … er war praktisch immer draußen, streifte tagelang durch irgendwelche Wälder und … und er liebte das Meer …“ Sie verstummte kurz, ehe sie ein kurzes, aber dennoch mildes Lachen ausstieß. „Und er hat mir mal erzählt, dass er sich als kleiner Junge nichts sehnlicher gewünscht hat, als fliegen zu können.“ Sie wandte den Kopf und blickte so liebevoll auf die Urne, als stünde Michael vor ihr. Dann hob sie den Blick und sah uns an. „Ich möchte, dass er frei ist … dass seine Seele frei ist“, flüsterte sie tränenerstickt.
Ich stand auf und trat neben sie; während ich ihr meine Hand auf die Schulter legte, suchte ich ihren Blick. „Daria … ich weiß, ich habe dir unrecht getan – ich war scheußlich zu dir und dafür möchte ich mich entschuldigen.“ Sie erwiderte meinen Blick und konnte ihre Überraschung über mein Eingeständnis nicht verbergen. „Ich … also, ich glaube, ich kenne den perfekten Ort, an dem wir von Michael Abschied nehmen können“ Ich zögerte kurz, ehe ich fortfuhr. „Und auch von seiner Schwester.“ Ich wusste, dass Daria über meine Äußerung nicht glücklich war, doch die Tatsache, dass sie Julian damals geholfen hatte, den Bann zu brechen, unter dem ich stand, wollte ich nicht unter den Tisch kehren.
„Ich wüsste nicht, warum ich das tun sollte“, erwiderte Daria schroff. Ich biss mir auf die Lippen, nahm ihre Hand und hielt meinen Blick fest auf sie gerichtet. „Kannst du vielleicht damit leben, wenn ich dir einfach sage,
wir
“, mein Blick streifte Julian, „haben unsere Gründe, okay?“ Daria schnaubte unwillig, doch sie rang sich ein fast unmerkliches Nicken ab. „Und wo ist dieser Ort, den du für geeignet hältst?“, wollte sie wissen und ihre Augen wurden schmal.
„Vor ein paar Jahren war ich auf einer außergewöhnlichen Insel.“ Ich hielt ihrem argwöhnischen Blick stand und fuhr fort. „Wenn man dort auf einer, der steil in das dunkelblaue Wasser abfallenden Felsenküsten steht, und der untergehenden Sonne dabei zusieht, wie sie die Wellen golden färbt, während der Wind einen salzigen Geschmack auf der Zunge hinterlässt – dann hat man das Gefühl, man befindet sich zeitgleich am Anfang und am Ende der Welt.“ In diesem Moment sah ich sie wirklich vor mir, die Insel voller Erinnerungen an mein menschliches Dasein, das schon in weite Ferne gerückt war.
Darias Blick fiel zurück auf die Urne und sie schien über meine Worte nachzudenken. Als sie ihren Kopf hob und mich ansah, wurde mir bewusst, wie schwer es ihr fiel, Abschied von ihm zu nehmen. Doch nach einem kurzen Zögern nickte sie schließlich. „Also gut“, erklärte sie. „Wir müssen die Urne nur irgendwie in ein Flugzeug schmuggeln.“ Fragend hob sie die Brauen, doch ich nickte nur. „Das sollte kein Problem sein.“ Ich wandte mich zu Max um und dieser nickte.
Epilog Tamara
Malta – die Insel war genau so, wie ich es in Erinnerung behalten hatte – fast noch ein bisschen schöner, da meine Sinne noch so vieles mehr wahrnahmen als damals, als ich zum ersten Mal hier gewesen war. Doch statt in einem der nostalgischen gelben Busse, saß ich diesmal in einem Mietwagen, als wir das Flughafengelände verließen.
Julian lenkte den Wagen sicher über die schlecht befestigte Straße, die sich schlängelnd entlang der abfallenden Klippen zog und zu den Dingli Cliffs führte. Es wurde eine holprige Fahrt und ich sorgte mich um Daria.
Sie saß zwischen Max und Valentina und hielt die Urne so fest umklammert, dass die Knöchel unter ihrer Haut weiß hervortraten. Sie sagte kein Wort und ihre Augen glichen denen eines verwundeten Rehs. Hin und wieder lief eine stille Träne über ihre Wange und sie kaute die ganze Zeit über auf ihren bleichen Lippen.
Auf dem Flug hierher hatte sie sich mehrmals übergeben und die Strapazen der Reise und ihrer tiefen Trauer, hatten ihre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Auch wenn wir Michael alle nicht wirklich gekannt hatten, so konnte ich dennoch spüren, dass die bedrückende Stimmung, die von Daria ausging, sich auch auf uns übertragen hatte. Sie tat mir unendlich leid. Ich wüsste
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