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Ruf der Dunkelheit

Ruf der Dunkelheit

Titel: Ruf der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Rauch
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nicht, wie ich reagiert hätte, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Sofort schnürte sich meine Kehle zu und ich konnte kaum mehr schlucken. Zögernd ergriff ich Julians Hand, die locker auf dem Schalthebel lag, schlang meine Finger darum und drückte sie fest. 
    Langsam bekam ich das Gefühl, dass ich so etwas wie einen Schutzengel haben musste. In den letzten Jahren war ich dem Tod mehr als einmal in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen. Während das dunkelblaue Meer an mir vorüber zog und ich meinen Blick wie hypnotisiert auf die Wellen gerichtet hielt, dachte ich zum ersten Mal seit langem an meine Eltern – meinen Vater, der eine besondere Verbindung zu dieser Insel gehabt hatte und mir war, als könnte ich ihn spüren. Seine Anwesenheit war fast greifbar, in jedem Grashalm, jedem Stein – es fühlte sich warm an und tröstend. Plötzlich tauchten auch Bilder meiner Mutter Cordelia in meiner Erinnerung auf. Fast schmerzhaft erinnerte sich mein Verstand an ihr warmes Lächeln – ihre liebevollen, sich stets sorgenden, braunen Augen. Mein Kinn begann zu zittern. Schnell blinzelte ich die aufsteigenden Tränen weg. Es ging ihr gut – das wusste ich. Sie lebte mit Alex zusammen noch immer in ihrem kleinen Häuschen in dem ich groß geworden war und bekam hin und wieder Besuch von ihrer Tochter, meiner Schwester Caroline.
    Sie hatte damals nur widerstrebend zugestimmt, meine Vergangenheit mit unserer Mutter aus deren Gedächtnis zu löschen. Doch in dem Moment, als ich sie dazu gedrängt hatte, konnte ich mir nicht sicher sein, ob ich je zu ihr zurückkehren würde.
    Caroline lebte seit zwei Jahren mit ihrem Gefährten in der Wildnis Skandinaviens und genoss die Abgeschiedenheit zur Zivilisation und die Tatsache, dass sie sich dort nicht verstellen musste. Plötzlich überkam mich eine fast überwältigende Sehnsucht nach ihr. 
    „Wir sind da!“ Julians Stimme riss mich aprubt aus meiner Trance und ich zuckte leicht zusammen, als er mit einem ratschenden Geräusch die Handbremse anzog. Ich sog geräuschvoll Luft ein, ehe ich die Beifahrertüre öffnete und ausstieg. Max half Daria, indem er ihr die Urne für einen kurzen Augenblick abnahm, während sie heftig zitternd von der Rückbank kletterte.
    Der Wind, der zusammen mit den peitschenden Wellen diese schroffe, einzigartige Küste geschaffen hatte pfiff mir entgegen, wirbelte meine Haare in die Luft und trug eine salzige Brise in meine Nase. Einen Moment lang blieb ich einfach nur stehen, atmete tief ein und aus und ließ meinen Blick über dieses beeindruckende Stück Land schweifen.
    Daria trat neben mich und blickte mich stumm an.
    „Was meinst du? Würde ihm das gefallen?“, wollte ich wissen und sie nickte energisch. Offenbar strahlte dieser Ort nicht nur auf mich einen solchen Zauber aus, denn ich beobachtete, wie Daria jeden noch so winzigen Eindruck in sich aufsog. Der Wind spielte mit ihrem langen schwarzen Haar und die Farbe des Wassers glich der ihrer Iris. Max legte ihr seine Hand sachte auf die Schulter und sah sie fragend an. „Wollen wir?“ Zögernd nickte sie, doch ihre Hände begannen erneut zu zittern. Sanft schob Max sie in Richtung der Klippe, die zu unseren Füßen fast senkrecht in das tosende Wasser abfiel.
    Bebend öffnete Daria den Deckel, der Urne und sah hilfesuchend zu Max. Offenbar war sie mit der Situation komplett überfordert. Valentina, Julian und ich traten neben sie, während Max zögernd zu sprechen begann. „Dies ist heute kein Abschied, es ist lediglich ein Moment … eine Station auf der Reise des Lebens. Hiermit geben wir eure Seelen frei, damit sie ihre Reise fortsetzen können, um am Ende vereint in die Ewigkeit einzugehen.“
    Schluchzend und unter Tränen trat Daria an den Rand der Klippe, presste murmelnd ein paar Worte des Abschieds hervor und drehte das metallene Behältnis mit der Öffnung nach unten um es dem Wind zu überlassen, die beiden fortzutragen. Max Worte hatten mich tief berührt und obwohl ich durch meinen Tränenschleier fast nichts erkennen konnte, ließ ich meine Augen fest auf die untergehende Sonne gerichtet, die den Himmel in ein ungewöhnlich dunkles Rot getaucht hatte. Die einzelnen Wolken, die vorüber zogen sahen aus, als hätte man sie mit Blut getränkt. 
    Als ich Julians Arm spürte, der sich sanft um meine Schulter legte und mich fest an ihn heranzog, lehnte ich dankbar meinen Kopf an seine Schulter. Ein wohliger Schauer durchfuhr meinen Körper, als ich die Wärme spürte,

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