Ruf der Geister (German Edition)
gegeben, weil ich mich geweigert habe , zum Klavierunterricht zu gehen. Ich würde nur an mein Vergnügen denken. Welches Vergnügen denn? Freunde hab ich schon seit einem Jahr nicht mehr. Wann sollte ich die denn auch treffen?“
Joshua sah, wie Sophie ständig versuchte, einen Blute rguss am Handgelenk zu verdecken. Als ob man sie in ihr Zimmer geschleift hätte.
„Und dann bist du gegangen?“, hakte er nach.
Sophie schüttelte den Kopf. „Gegangen bin ich, als Papa mich so doll geschlagen hat, dass ich gegen die Wand geknallt bin. Und nachdem er all meine Bilder weggeworfen hat.“
Beunruhigt horchte Joshua auf. Dass der Vater gewal ttätig war, stand nicht in der Akte! „Hast du dich dabei verletzt, Sophie?“
„Nur ‘ne Beule“, antwortete sie leise.
„Hat dein Vater dich zuvor schon geschlagen?“
Sie senkte den Blick. „Ja, aber ich hab’s nicht erzählt.“
Joshua seufzte innerlich. „Das kann ich gut verstehen. Und er hat deine Bilder weggeworfen? Zeichnest du?“
„Ja! Am liebsten Mangafiguren. Ich wollte keine Hausaufgaben machen, weil es schon so spät war. Da gab es Theater und er hat alle meine Bilder zerrissen und in den Müll getan. Er hat mir verboten zu malen!“ Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich hab einen Block und meine Bleistifte mitgenommen. Draußen kann ich zeichnen, so oft ich will.“
„Darf ich deine Bilder mal sehen?“
Sophie starrte ihn an, wägte ab, ob sie ihm wirklich trauen könnte. Langsam griff sie in ihre Innentasche und holte ihren Block hervor. Sie zögerte kurz, dann reichte sie Joshua ihr kostbarstes Gut.
Er nahm es wie einen Schatz und betrachtete die kle inen Kunstwerke, die dort abgebildet waren. Sophie hatte Talent, das erkannte Joshua sofort.
„ Wunderschön!“
Sophie lächelte. „Ich würde so gerne Grafikdesign oder so studieren. Ich könnte das auf der Fachhochschule m achen. Aber ich darf nicht.“
Joshua gab ihr den kleinen Zeichenblock zurück.
„Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir dein Problem in Angriff nehmen können. An deiner Akte habe ich gesehen, dass du schon etliche Gespräche hattest. Und deine Eltern ebenfalls …“
„Das nützt doch nichts! Jahrelang tyrannisieren die mich jetzt. Ich kann nicht mehr! Da erfrier ich lieber im Schnee.“
„Letzteres ist keine Option, Sophie, und ich glaube, das willst du auch gar nicht. Der erste Schritt wäre jetzt, dass ich noch einmal mit deinen Eltern rede und …“
„Nein!“ Sie sprang auf. „Ich gehe nicht zu denen z urück!“
„Sophie, das sagt auch niemand. Aber ich muss mit ihnen reden. Ich muss abklären, wie sie zu dir stehen, s odass ich weitere Maßnahmen ergreifen kann.“
Unsicher setzte Sophie sich wieder, griff nach ihrer Kakaotasse und schlang ihre Hände darum, als würde sie verzweifelt Wärme suchen.
„Ich bin aus dem Fenster geflüchtet, weil Papa einfach mein Zimmer von außen abgeschlossen hat. Ich konnte nicht mal aufs Klo.“ Tränen verschleierten ihren Blick und sie fuhr sich unwirsch über die Augen. Ihre Hände zitterten.
„Wenn du möchtest, könnte ich versuchen, dich in e iner betreuten Wohngruppe unterzubringen.“
Sophie schniefte leise. „Echt? Würde das gehen?“
„Es gibt einiges, was ich im Amt abklären muss, aber dafür bin ich ja da. Wir kriegen das hin, okay?“
„Und … und klappt das sofort?“
Joshua wollte sie keinesfalls anlügen. „Sofort wird schwierig werden. Eventuell musst du ein paar Tage ins Heim, wenn du nicht zu deinen Eltern willst.“
Nervös knibbelte Sophie an ihren Händen und lehnte sich zurück.
„Bleibst du auf der Straße, vernichtet sie dich schneller, als du denkst. Glaub mir, ich weiß das.“
„Aber ins Heim?“
„Für ein paar Tage.“
Das Mädchen stöhnte auf, schien einen kleinen Krieg mit sich auszufechten.
„Du hast so viel Talent, Sophie! Lass nicht zu, dass das zerstört wird.“
„Okay …“, hauchte sie.
*
Am Nachmittag hatte Joshua das Gespräch mit Sophies Eltern. Er hatte sie mit Absicht nicht ins Amt bestellt, sondern wollte in dem Zuhause des Mädchens mit ihnen sprechen.
Sie wohnten in einem schönen Einfamilienhaus mit gepflegtem Vorgarten. Die Sträucher waren perfekt g eschnitten, der Schnee geräumt und hübsche Deko stand auf der Eingangstreppe.
Es schien eine wunderbare heile Welt zu sein.
Als eine Frau in den mittleren Jahren die Tür öffnete, sah sie ihn erschrocken an. Er stellte sich vor und Joshua sah, wie sie aufatmete.
Weitere Kostenlose Bücher