Ruf der Geister (German Edition)
hinter einer verschlossenen Tür in sich verborgen. Nun war ein Fenster geöffnet worden und der Schmerz brannte abrupt auf. Rasch wischte sich Jo shua über das Gesicht.
Er wäre so gerne zu ihrer Beerdigung gegangen, aber seine Kollegin Hannah hatte deutlich gemacht, dass ihre Eltern das Mädchen anonym bestatten lassen wollten.
Aus einem Impuls heraus fuhr er zum Krankenhaus Bergmannsheil. Er wusste, dass man dort auf direktem Wege zum Ehrenmal kam. Er parkte , ließ das Medical Center hinter sich und lief langsam über die verschneite Fläche zu dem turmähnlichen Gebilde. Hier war Lisbeths Lieblingsplatz gewesen.
Das achtzehn Meter hohe Denkmal thronte auf einer Anhöhe über dem Berger See und gedachte der Kriegso pfer. Im unteren Bereich waren überall vergoldete Namen eingraviert. Jedes Mal erschrak Joshua über die Vielzahl der Opfer aus Gelsenkirchen.
Er ließ jegliche Etikette fallen und ging um das Den kmal herum, setzte sich auf die Erhebungen, an denen man eigentlich Kränze zum Gedenken aufsteckte. Lisbeth hatte stets so gesessen und auf den Berger See hinuntergeschaut.
Der schneebedeckte Wald umrahmte das Gewässer. Dunst umhüllte die Umgebung. Die Leiche der jungen Frau war geborgen und das zweite Loch im Eis von den Wasservögeln gerne angenommen worden.
„Wie hast du immer gesagt, Lisbeth? Freud und Leid liegen eng beieinander.“ Ein trauriges Lächeln glitt über sein Gesicht. „Du hättest dich gefreut, dass die Vögel jetzt noch eine weitere Rückzugsmöglichkeit auf dem See haben.“
Die Kälte des Steins kroch schnell durch den Stoff seiner Jeans. Trotzdem verharrte er unbeirrt und wartete.
„Wenn ich wüsste, wo dein Grab ist, könnte ich dir wenigstens eine von deinen geliebten Rosen hinlegen“, flü sterte er in den Wind.
Du bist meine Rose, Joshua.
Er wandte seinen Kopf nach rechts. Lisbeths schmale Gestalt stand neben ihm und sah mit einem zufriedenen Ausdruck auf den See. Ihr feines Haar bedeckte dunkel die schmalen Schultern. Die Creole in der Augenbraue war verschwunden und keine Schminke verdeckte ihre blauen Augen, die ohne den Kajal unschuldig und kindlich wirkten. Ihre vertraute Gestalt zerfaserte an den Rändern und wirkte durchlässig.
„Ich hoffte, dass du … noch einmal hierher kommst“, wisperte Joshua ihr zu. Sein Hals fühlte sich an wie zug eschnürt.
Ich habe immer geahnt, dass du mehr sehen kannst als andere. Sie betrachtete ihn mit glänzendem Blick.
„Und ich hatte so gehofft, dass du es schaffst, Kleines“, erwiderte Joshua.
Lisbeth lächelte sanft. Josh, ich habe es geschafft. Ich war zerstört. Selbst du hast mich nicht völlig auffangen können. Jetzt wartet ein neues Leben auf mich. Hier oder dort, wer weiß das schon. Aber ich beginne von vorn – irgendwann.
„Hab … hab ich dir denn überhaupt irgendwie helfen können?“ Joshua versuchte, seine Gefühle zu kontrolli eren. Es gelang ihm nur sehr unzureichend. Doch hier sah ihn niemand außer Lisbeth.
Ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Ohne dich würde ich noch immer unter Drogen in einer Gasse sitzen.
„Aber du bist tot!“, widersprach er.
Glaub mir, ich komme mir alles andere als tot vor. Ihr Lachen vibrierte in seinem Geist. Ein Ruf von dir und ich komme, Joshua. Wenn du mich brauchst, sag nur ein Wort. Du brauchst kein Grab, um mich zu finden, denn ich finde dich.
Ihre blasse Hand fuhr sanft über Joshuas Wange. Dann verschwand sie und Joshua war wieder allein. Lange star rte er auf den Flecken, an dem er sie gesehen hatte.
„Kein Grab …“, raunte er.
EIN NEUER SCHÜTZLING
Spät am Abend saß Joshua vor dem Fernseher und schaute eine der zahllosen Serien, die ihn eigentlich nicht im Mindesten interessierten. Er wusste, dass er längst im Bett sein sollte, aber die Müdigkeit wollte an diesem Abend einfach nicht kommen. Zu viele Gedanken umkreisten ihn.
Als einer der langweiligen Protagonisten einen Witz über eine Kaffeemaschine riss, horchte Joshua auf.
Kaffeemaschine?
Er sprang auf und ging zu seiner Abstellkammer. Als er die schmale Tür öffnete, fiel ihm der Besen entgegen und wieder löste sich eine der Toilettenrollen, landete direkt auf seinem Kopf.
„Bei mir ist es also aufgeräumt? Lea, du hast noch nicht meine Kammer des Schreckens gesehen“, murmelte er belustigt.
Joshua warf die Rolle zielsicher zurück aufs Regal. Die Kaffeemaschine befand sich natürlich in der hintersten Ecke und er musste seinen halben Putzvorrat ausräumen,
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