Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
Mitte der Burgmauer, direkt zwischen zwei Wehrtürmen. Die anderen beiden Türme hingegen flankierten ein dreistöckiges Gebäude, welches offenbar die Wohnquartiere des Burgherrn und seiner Familie beherbergte. Im Bereich des Burgtors wirkte die Mauer besonders verstärkt, und Sophie vermutete, dass sich darin das Torhaus mit den Unterkünften der Wache befand.
„Was für ein herrliches Schloss“, schwärmte sie, worauf Hugues, der hinter ihr ging, abschätzig schnaubte.
„Ein Neubau“, brummte er verächtlich.
Jean blickte Sophie nachsichtig an. „Château Fontaine steht erst knappe fünfzig Jahre“, erklärte er. „Anders als so manche uralte Festung in diesen Gefilden.“
„Wäret ihr Fontaines nicht so eine eigensinnige Bande, dann würden eure Kastelle auch länger halten“, grummelte Hugues, was sein Schwager mit einem Lachen quittierte.
„Stimmt, unser Geschlecht neigt in der Tat dazu, sich in besonders garstige Streitigkeiten zu verstricken“, räumte er leichthin ein. Sophie blieb aber keine Zeit, diese rätselhafte Bemerkung zu hinterfragen, denn nun waren sie schon durch das niedrige Portal in den Rittersaal getreten. Sie musste ein wenig blinzeln, bis ihre Augen sich an das dämmrige Halbdunkel gewöhnt hatten. Innen wirkte die Halle weit höher und breiter, als es von außen den Anschein erweckte.
„Wunderschön!“, stieß sie hervor.
„Ja, für einen Neubau nicht übel“, betonte Jean stolz. Er bat die Gäste weiter und rief dabei seinen Kastellan herbei, ohne auf Hugues zu achten, der ein verächtliches Naserümpfen nur mühsam zu kaschieren vermochte.
Aus dem Grüppchen von Menschen, die sich um den Kamin drängten, erhob sich jetzt eine Frau. Erschrocken zuckte Sophie zusammen, als sie erkannte, dass es sich dabei um die Gebärende handelte, die sie in ihrer Vision gesehen hatte. Angesichts ihres warmen Lächelns fragte Sophie sich für einen Augenblick, ob die Dame sie wohl in jener Nacht ebenfalls erblickt hatte.
Hast du da vielleicht tatsächlich etwas erlebt, was sich in Wirklichkeit abspielte?
Diese Möglichkeit hatte sie bisher kaum in Betracht gezogen. Verunsichert ließ sie den Blick durch den Burgsaal schweifen, doch nichts daran kam ihr bekannt vor.
Ob diese Frau wohl vor Kurzem niedergekommen war? Nachdem sie den Hausherrn nochmals genauer gemustert hatte, war sie davon überzeugt, dass er der Mann war, den sie in jenem Traum neben Hugues gesehen hatte. Angespannt biss sie sich auf die Unterlippe.
Was wohl aus dem Kind geworden war? Hatte es überlebt?
„Seid uns willkommen auf Fontaine“, grüßte die Hausherrin in freundlichem Ton, ohne dass in den hellblauen Augen der Frau das geringste Erkennen aufflackerte.
„Meine Schwester Louise“, erklärte Hugues, der mit dem schlafenden Luc auf den Armen hinter Sophie stand. „Die Dame des Hauses.“
Louise wirkte etwas verblüfft darüber, dass ihr Bruder ihren Titel so ausdrücklich betonte, aber ihr Mann lachte wieder. Als Sophie jedoch über die Schulter schaute, sah sie, das Hugues vor Kälte mit den Zähnen klapperte – ein Anblick, der sie sofort wieder in die Gegenwart zurückriss.
„Das hier ist Sophie“, erklärte der Hausherr nun seiner Gemahlin. Erstaunt weiteten sich deren Augen, was für Sophie der Beweis war, dass Hugues tatsächlich den Mund nicht hatte halten können. Sie musste sich regelrecht zusammennehmen, sonst hätte sie ihm auf der Stelle die Meinung gesagt.
„Ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen“, sagte Louise begeistert.
„Ganz meinerseits“, gab Sophie artig zurück, um dann auf den Knappen zu weisen. „Ich fürchte, der Knabe wird sich schlimm erkälten …“ Weiter kam sie nicht, denn als die Hausherrin das blasse Jungengesicht bemerkte, schlug sie entsetzt die Hände zusammen.
„Was fällt dir eigentlich ein, Jean?“, herrschte sie ihren Gatten an und winkte energisch den Kastellan herbei, der bislang höflich im Hintergrund stand. „Arnaud! Unsere Gäste sind ganz durchnässt und durchfroren. Lass im Kinderzimmer ein Feuer anzünden, damit sie heute Nacht dort schlafen können. Außerdem benötigen sie trockene Kleidung und ein heißes Bad. Gaston soll außerdem einen Wildbreteintopf bereiten und Glühwein kredenzen. Meinem Bruder dürfte eine von Jeans Tuniken sicherlich passen …“
Nachdem sie der wohligen Wärme des Bades entstiegen war, betastete Sophie abermals Lucs Haut. Zum Glück schien er allmählich wieder etwas Farbe zu bekommen. Nun
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