Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
waren reglos und zeigten keinerlei Lebenszeichen. Kein Atemzug, welcher die Brust hob oder senkte; kein Zucken der Lider. Ganz friedlich wirkte er, doch auch bei oberflächlicher Betrachtung ließ sich erkennen, dass seine Seele die äußere Hülle verlassen hatte.
Er war tot.
Selbst die Erkenntnis, dass sein Vater endlich Ruhe gefunden hatte, konnte die Trauer, die nun in Hugues’ Brust aufstieg, nicht dämpfen. Trotzig kämpfte er mit den Tränen und dachte daran, dass sie sich nun nicht länger anschreien würden, wie sie es in den vergangenen zwanzig Jahren getan hatten. Jetzt war sein Vater befreit von dem Siechtum, das ihn so lange geplagt hatte, und wenngleich er seine zänkische Art bereits vermisste, hoffte Hugues doch, dass der Alte die ewige Ruhe finden werde.
Vielleicht wartete seine Gemahlin ja im Jenseits auf ihn – mit Anispasteten.
Der alberne Einfall entlockte Hugues trotz aller Trauer ein Lächeln. Geraume Zeit betrachtete er still den Toten und prägte sich seine erstarrten Züge ins Gedächtnis ein. Dies war das endgültige Lebewohl, und ehe Hugues sich versah, nahm er ohne jedwede Scheu die gichtige Hand seines Vaters in die seinen. Ohne sich abschrecken zu lassen von der bereits kalt werdenden Haut, verabschiedete er sich mit einem letzten Händedruck von dem Toten.
„Lebt wohl, Milord“, flüsterte er stockend, voller Gewissensbisse ob all der ungerechtfertigten Anklagen, die er seinem Vater in den vergangenen Jahren an den Kopf geworfen hatte. „Ich irrte mich, als ich behauptete, Ihr seiet des Lebens müde. Denn selbst dem Tod habt Ihr einen heldenhaften Kampf geliefert.“
Plötzlich spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Schnell fasste er sich wieder und stellte fest, dass es Sophie war, die vorsichtig ans Totenbett trat. Neben Hugues blieb sie stehen, berührte die Stirn des Toten, tastete nach dem Puls und fühlte die Brust.
„Im Schlaf hingeschieden“, murmelte sie mit dem Ansatz eines Lächelns, während sie Hugues ansah. „Er hatte einen leichten Tod, Hugues“, fügte sie noch hinzu, um letzte Befürchtungen zu zerstreuen.
„Ja“, krächzte er heiser und ließ sich dann von ihr am Ellbogen aus dem Totenzimmer geleiten. An der Tür stand der Kastellan, die Miene immer noch fassungslos. Hugues packte ihn bei der Schulter. „Wir werden nun alles in die Wege leiten, Eduard“, versicherte er dem Burgvogt, der zustimmend nickte.
„Jawohl, Milord“, sagte er, doch ehe er noch etwas hinzusetzen konnte, stürmte Justine in die Kemenate und stieß den Kastellan beiseite.
„Stimmt es?“, fragte sie mit gehetztem Blick. „Ist Papa tot?“
„Ja, Justine. Er ist im Schlaf verschieden“, bestätigte Hugues mit schwerer Stimme.
„Im Schlaf verschieden?“, wiederholte seine Schwester gehässig und warf Sophie einen hasserfüllten Blick zu, der Hugues sofort misstrauisch machte. „Sei bloß nicht so vertrauensselig, Hugues! Die Hexe da hat ihn umgebracht!“
14. KAPITEL
„Justine! Hüte deine Zunge!“ Hugues war sichtlich erschüttert über diese Ungeheuerlichkeit seiner Schwester. Das aber war gar nichts im Vergleich zu der Kälte, welche angesichts dieser aus der Luft gegriffenen Anklage Sophies Herz umklammerte.
In einem Atemzug als Hexe und Mörderin bezeichnet zu werden, das war ein ungeheurer Vorwurf. Die Boshaftigkeit, die in Justines Augen aufglomm, verriet Sophie, dass diese Frau sich nicht leicht überzeugen ließ. Wie konnte sie so etwas denken? Alle haben doch zugesehen, wie ich das Elixier zubereitete! Anscheinend aber nicht, denn sogar der Burgvogt trat unbehaglich von einem Bein auf das andere, und wenngleich Sophie seinen Blick geradezu suchte, schlug er verlegen die Augen nieder.
Noch immer hallte ihr Melusines Warnung in den Ohren wider, und inzwischen rätselte sie darüber nach, ob es wohl ein Fehler gewesen war, in die Welt der gewöhnlichen Sterblichen zurückgekehrt zu sein. Sollte sie sich ihr Lebtag Verdächtigungen und Dummheit ausgesetzt sehen? Als sie Hugues anschaute, bemerkte sie, wie er krebsrot vor Zorn nach Fassung rang. Plötzlich wünschte sie, sie hätte es tunlichst vermieden, den Zwist in diesen Haushalt zu tragen, auch wenn dies unwissentlich geschah.
„Sophie ist Gast in diesem Haus und zudem meine Zukünftige“, bekundete Hugues streng. Sophie aber vernahm seine Worte kaum, war sie doch viel zu sehr im Bann der Feindseligkeit, die in Justines Augen lag. Galt dieser Hass etwa allein ihr? Weswegen bloß? Sie hatte doch
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