Ruf der Sehnsucht
hast. – Oder sollte ich lieber sagen, hast entführen lassen? Du wirst ja wohl kaum selbst durch das Fenster eingestiegen sein«, setzte sie sarkastisch hinzu. »Wo ist sie?«
Der Comte schnippte ein imaginäres Stäubchen von seinem Ärmel. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du plapperst, aber es bestürzt mich, dass du so offen über deinen Bastard sprichst. Hast du denn alle Anstandsregeln vergessen?«
Er sah derart indigniert aus, dass sie geneigt war, ihm zu glauben.
»Wo ist der Rubin?« Der Blick, mit dem er sie fixierte, war eisig.
»Douglas hat ihn.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Genugtuung zu verhehlen.
Wut ließ das gutgeschnittene Gesicht des Comte zur Fratze werden.
Auf dem Heimweg schickte Douglas immer wieder ein Stoßgebet gen Himmel. Er hoffte inständig, dass man inzwischen etwas von seiner Tochter gehört hatte oder sie sogar wieder zu Hause war.
Lassiter war noch unterwegs, und so öffnete ein Lakai die Haustür. Der junge Mann verbeugte sich tief, als Douglas eintrat.
»Gibt es etwas Neues?«
»Nein, Sir. Nichts.«
Douglas ging in die Bibliothek, schloss die Tür, trat vor den Kamin und betrachtete das Porträt seiner Tochter. Der Lichteinfall ließ ihre Augen blitzen. Wieder fiel ihm die Ähnlichkeit mit dem Bild seiner Großmutter Moira MacRae auf.
»Wo immer du bist, Meggie«, sagte er, »ich hoffe, es geht dir gut.«
Plötzlich hatte er das Bedürfnis, mit Jeanne zu sprechen. Er musste wissen, wie sie neun Jahre Ungewissheit ertragen hatte. Wie hatte sie sie auch nur einen Tag ertragen?
Er hätte Margaret besser beschützen, nachts eine Wache ums Haus patrouillieren lassen müssen.
Nein – es würde immer Dinge geben, die er nicht verhindern könnte. Er hatte seine Tochter innerhalb des Hauses sicher gewähnt, doch jetzt hatte irgendein Schurke ihn eines Besseren belehrt. Das erzürnte ihn nicht nur, sondern weckte ein nie gekanntes und beunruhigendes Gefühl der Unzulänglichkeit in ihm.
Als er bei Jeanne anklopfte, kam keine Reaktion. Er öffnete die Tür und fand das Zimmer leer vor. Der Kleiderschrank stand offen und sah aus wie durchwühlt. Irritiert betätigte Douglas den Klingelzug.
»Wo ist Miss du Marchand?«, fragte er den hochgewachsenen Lakai, der gleich darauf erschien.
»Ich weiß es nicht, Sir. Soll ich mich beim Personal erkundigen?«
»Ja, tut das«, sagte Douglas gereizt.
Er ging zum Schrank, hängte die Kleider ordentlich auf, wobei ihm der vertraute Frühlingsblumenduft in die Nase stieg, und stapelte die an vielen Stellen gestopften Strümpfe.
Es war das erste Mal, dass er Jeannes Zimmer in ihrer Abwesenheit betrat, und es war ihm nicht wohl dabei, aber er konnte nicht widerstehen, sich umzuschauen. Viel zu sehen gab es allerdings nicht, denn in den kleinen Koffer, mit dem sie in sein Haus gekommen war, passte nur wenig hinein. Was für ein Wandel: Sie entstammte einem alten, französischen Adelsgeschlecht, und nun besaß sie nicht mehr als die Ärmsten der Armen in Edinburgh.
Allerdings charakterisierte Jeanne nicht, was sie besaß, sondern was in ihren Augen zu lesen stand.
Auf dem Nachttischchen lag ein in rotes Leder gebundenes, schmales Buch und darauf ihre Brille.
Er nahm sie in die Hand und sah im Geist, wie Jeanne die Schlingen um ihre Ohren legte, das Buch aufschlug und darin las. Als er es seinerseits aufschlug, erkannte er, dass es sich um ein Tagebuch handelte.
Ich werde ein Kind bekommen, und ich bin überglücklich. Ich kann es nicht erwarten, Douglas davon zu erzählen. Ich kann es nicht erwarten, mein Kind im Arm zu halten. Bestimmt sehen mir alle mein Glück an, denn ich kann nicht aufhören zu lächeln.
Er klappte das Buch zu und hielt es einen Moment in den Händen, bevor er es erneut aufschlug. Die Hälfte des Buches war leer, und er suchte die letzte beschriebene Seite. Der Eintrag stammte vom gestrigen Tag, und die Schrift unterschied sich drastisch von Jeannes früheren Einträgen. Sie war nicht mehr so schwungvoll, so raumgreifend und mit so vielen Schnörkeln versehen, sondern steil und nüchtern.
Die Harmonie zwischen ihm und Margaret zu erleben bricht mir das Herz. Das ist die wahre Strafe für meine Sünde: zu sehen, wie es hätte sein können, und mich in Ewigkeit danach zu sehnen. Meine geliebte Tochter, des Himmels schönster Engel, ich vermisse dich.
»Sir?«, sagte Betty hinter ihm.
Als er das Buch und die Brille auf das Nachttischchen zurücklegte, sah er auf dem
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