Ruf der Sehnsucht
Wasser gefüllt worden, aber als sie sich das Gesicht damit wusch, wünschte sie, es wäre kalt, denn dann hätte sie ihre geschwollenen Augen kühlen können. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, schaute sie in den Spiegel über der Kommode. Sie war weiß wie die Wand. Sogar die Lippen wirkten blutleer. Angesichts dessen erschienen die roten Augen regelrecht gespenstisch. Sie hängte das Handtuch auf den Ständer, trat ans Fenster und schaute in den Tag hinaus, der so hell begonnen hatte und so düster geworden war.
Als sie ein Geräusch hörte, drehte sie sich um, aber es war niemand hereingekommen. Sie ging zur Tür, öffnete sie und schaute rechts uns links den Korridor hinunter. Nichts.
Es war verrückt, aber sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam schloss sie die Tür – und in diesem Moment spürte sie heißen Atem auf ihrem Nacken.
Sie hatte keine Chance zu schreien. Zwei Hände legten sich um ihren Hals, so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. Der Angreifer drückte sie gegen die Tür, dass sich die Schnitzerei schmerzhaft in Jeannes Wange grub.
»Wo ist der Rubin?«, fragte eine rauhe Stimme.
Jeanne wollte antworten, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Mit beiden Händen versuchte sie verzweifelt, die Finger aufzubiegen, die ihr den Atem abdrückten.
»Wo ist der Rubin?« Der Klammergriff verstärkte sich noch.
Als sie gerade ohnmächtig zu werden drohte, ließ ihr Peiniger sie plötzlich los und riss ihr die Kette ab. Jeanne wimmerte vor Schmerz, sank gegen die Wand und legte die kalten Hände um ihren Hals, um den brennenden Schmerz zu mildern.
»Ist er da drin?«, fragte der Fremde und drehte das Medaillon hin und her. Es ging auf, und als er sah, dass es leer war, schleuderte er es erbost quer durch den Raum.
Jeanne rutschte an der Wand entlang abwärts, bis sie auf dem Boden saß. Sie atmete röchelnd.
»Wo ist der Rubin?«, fragte der Mann zum dritten Mal, doch sie schüttelte nur stumm den Kopf.
Mit letzter Kraft richtete sie sich auf, um den Unhold zu betrachten, der in ihr Zimmer eingedrungen war. Schütteres Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und das pockennarbige Mondgesicht mit den schwarzen Zahnstummeln bildete einen beinahe komischen Gegensatz zu der hageren Gestalt. Die Tür des Schranks hinter ihm stand offen. Dort hatte er auf den richtigen Moment gewartet, um sie zu überfallen.
»Sagt es mir, oder ich bringe Euch um.«
»Tötet … mich … und … kein … Rubin.« Nach jedem Wort folgte ein Schmerzenslaut.
Der Mann überlegte und meinte dann mit einem bösen Grinsen: »Ich könnte auch noch andere Sachen mit Euch machen.«
Sie zuckte mit den Schultern.
Diese Reaktion machte ihn wütend. Er packte Jeanne beim Arm und zerrte sie hoch. »Gebt mir den verdammten Rubin.«
»Ich … habe … nicht.«
Er holte aus. Im nächsten Moment saß Jeanne wieder auf dem Boden. Sie schmeckte Blut.
»Ich … habe … nicht.«
Er stieß einen lästerlichen Fluch aus, und riss sie mit roher Gewalt wieder auf die Füße, zerrte sie zum Kleiderschrank, griff hinein und stopfte Jeanne einen Strumpf in den Mund. Mit einem zweiten Strumpf fesselte er sie an den Händen, so fest, dass die Finger innerhalb von Sekunden zu kribbeln begannen.
Und dann ging alles sehr schnell. Sie wurde durchs Haus und zur Küchentür hinausgezerrt, und dann war sie plötzlich auf der Straße und wurde in eine Kutsche gestoßen. Jeanne landete auf den Knien.
»Was zum Teufel soll sie hier?«, knurrte eine vertraute Stimme.
»Sie wollte nicht reden.«
»Nehmt ihr den Knebel aus dem Mund.«
Sie richtete sich auf und starrte den Mann an, der den Überfall auf sie offensichtlich angeordnet hatte.
»Guten Tag, Vater«, brachte sie mit trockenem Mund und tauben Lippen mühsam hervor.
Seine Erscheinung war wie üblich untadelig.
»Sie hat den Rubin nicht«, sagte das Mondgesicht.
Der Comte musterte sie mit schmalen Augen.
»Ich denke, doch«, widersprach er seinem Schergen. »Lasst uns allein.«
Der Mann verschwand, und Jeanne setzte sich ihrem Vater gegenüber und lehnte sich zurück. »Ich habe den Rubin wirklich nicht«, sagte sie langsam und mit einer Stimme, die ihr fremd in den Ohren klang.
Ihr Vater warf einen Blick auf ihren Hals, und sie fragte sich, ob die Würgefinger seines Handlangers dort wohl Spuren hinterlassen hatten.
»Wo ist meine Tochter?«
Seine Verwirrung wirkte echt. »Deine Tochter?«
»Margaret MacRae. Das kleine Mädchen, das du aus ihrem Heim entführt
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