Ruf der Sehnsucht
vielleicht noch perfekter, denn immerhin hatte sie neun Jahre lang Scheinheiligkeit praktiziert und perfektioniert.
»Es sieht nicht so aus, als würde es regnen.«
»Nein.« Sie wünschte inständig, er würde gehen.
Sie hatten einander ihre intimsten Geheimnisse anvertraut. Sie hatte ihn festgehalten, wenn er in Leidenschaft erschauderte. Er hatte sie an seiner Schulter um ihre Mutter weinen, über ihre Trauer sprechen lassen, was ihr davor niemand gestattet hatte. Die Arme um seinen Hals geschlungen, hatte sie mit ihm gelacht, bis sie beide so entkräftet waren, dass sie einander stützen mussten, um nicht niederzusinken.
»Habt Ihr einen Moment Zeit?«
»Bedaure, nein.« Da – ihre Stimme klang ebenso ruhig wie seine. Aber nicht so kräftig. Jeanne fröstelte. Der Schlafmangel machte sich wohl bemerkbar.
Für einen unbeteiligten Betrachter mussten sie wie zwei Bekannte wirken, die sich unverhofft getroffen hatten und über Alltägliches sprachen. Nichts verriet die Spannung, die in dem Schweigen zwischen ihnen knisterte.
In Paris hatte er sie jedes Mal begrüßt, indem er ihr Kinn anhob und sie sanft auf den Mund küsste. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, die Arme um seinen Hals geschlungen, und war zum ersten Mal an diesem Tag glücklich gewesen. Dann hatten sie lange einfach nur still dagestanden, einander angesehen und es genossen, nach Stunden der Trennung wieder vereint zu sein.
Entschlossen schob sie die Gedanken beiseite. »Ich muss mich verabschieden.« Sie hoffte inständig, dass ihre Stimme in Douglas’ Ohren nicht genauso erstickt klang wie in ihren. »Wir müssen noch etwas erledigen.«
Er lächelte auf das Kind hinunter. Sie war nicht zu der entspannten Freundlichkeit fähig, die er an den Tag legte. Anscheinend ließ ihn das Wiedersehen mit ihr völlig kalt. Ihr hingegen war, als verliere sie den Boden unter den Füßen.
Douglas bückte sich und sagte, den Arm ausstreckend, zu Davis: »Geh zu der Kutsche da drüben und bitte den Kutscher, das Geheimfach für dich zu öffnen.« Er zwinkerte dem Kind zu. »Darin findest du Edinburgh Rock«, setzte er hinzu, womit er die harte, weiße Süßigkeit meinte, die durch das händische Kneten abkühlenden Sirups entstand.
Davis schaute um Erlaubnis bittend zu Jeanne auf. Sie nickte und sah ihm nach, als er losrannte. Am liebsten hätte sie ihn zurückbeordert.
»Habt Ihr immer Süßigkeiten in Eurer Kutsche?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete er zu ihrer Überraschung. »Meine Tochter liebt sie.«
Der Schmerz, der sie bei seinen unerwarteten Worten durchfuhr, raubte ihr fast den Atem.
»Ihr habt eine Tochter?«
Sie stand so stocksteif da, dass sie fürchtete, der Wind könnte sie mittendurch brechen. Er hatte also geheiratet. Für ihn war das Leben offenbar weitergegangen. Sie dankte ihrem Schöpfer für den aufsteigenden Zorn, denn er war besser als Selbstmitleid.
»Ja.«
Jeanne rückte den Korb an ihrem Arm zurecht und lächelte. »Danke, dass Ihr so freundlich zu Davis wart«, sagte sie, »aber wir müssen jetzt wirklich gehen.«
Wenn sie die Berührung hätte kommen sehen, wäre sie ausgewichen, aber es ging zu schnell. Plötzlich lag seine Hand auf ihrem Arm, nicht auf dem Ärmel, sondern zwischen Rüsche und Handschuh. Seine Haut auf ihrer zu spüren war ein solcher Schock für sie, dass sie wie hypnotisiert auf seine Hand hinunterstarrte. »Bitte nehmt die Hand weg.«
Bitte, lieber Gott, mach, dass er geht. Mach, dass er in seine Kutsche steigt und zu seiner Frau nach Hause fährt. Und zu seinem Kind. Mach, dass er geht, bevor ich die Fassung verliere und mich schluchzend in seine Arme stürze. Oder ihn anflehe, mich zu lieben, wie er es einst tat.
Sie hob den Blick. »Ich muss darauf bestehen.« Das Wunder war nicht, dass sie die Worte herausbrachte, sondern dass ihre Stimme indigniert klang, als empfinde sie die Berührung tatsächlich als ungehörig.
Er gehorchte augenblicklich. »Verzeiht. Das war aufdringlich. Aber ich bin trotzdem nicht wie Hartley.«
»Wie meint Ihr das?«
Sie legte ihre Hand da hin, wo seine gelegen hatte. Die Haut fühlte sich noch immer warm an. Sie rieb die Stelle, eine Geste, die nicht unbemerkt blieb.
Er lächelte. »Verzeiht«, sagte er noch einmal. »Ich wollte Euch nur eine Lösung für Eure missliche Situation anbieten.«
»Und welche missliche Situation könnte das sein, Mr. MacRae?«, fragte sie und verwünschte sich für ihre Neugier.
»Euer Dienstherr hat Pläne mit Euch,
Weitere Kostenlose Bücher