Ruf der Sehnsucht
folgte den beiden. Empörung stieg in ihm auf, als der Einkaufskorb an Jeannes Arm ihn daran erinnerte, dass sie als
Angestellte
in dem Haushalt lebte. Eine du Marchand als Dienstbotin! Wieder brachte seine Tochter Schande über den Namen der Familie! Auch ihre Erscheinung war einer du Marchand unwürdig. Dieses schmucklose, dunkle Gewand und diese nicht gepuderte, flache, im Nacken aufgesteckte Haartracht – ein Schlag ins Gesicht.
Er erwog, Jeanne anzusprechen, verwarf den Gedanken jedoch, denn es wäre durchaus möglich, dass sie ihm in der Öffentlichkeit eine Szene machte. Als er seine Tochter das letzte Mal gesehen hatte, schrie sie ihn aus der Kutsche heraus, die sie fortbrachte, mit überschnappender Stimme an, das Gesicht von Verzweiflung und Zorn entstellt.
Nicholas, der Jeanne und dem Kind in einigem Abstand folgte, sah die beiden ein Haus betreten. CHARLES TALBOT , GOLDSCHMIED stand auf der Schaufensterscheibe und über der Ladentür. Als sie ein paar Minuten später herauskamen, heftete er sich wieder an ihre Fersen. Ein Mann sprach sie an. Jeanne unterhielt sich kurz mit ihm, und als sie ihren Weg fortsetzte, entschied der Comte, sie nicht weiter zu verfolgen. Da er nun wusste, wo sie wohnte, könnte er sie jederzeit aufsuchen, und er hatte im Moment Wichtigeres im Sinn, als seine Tochter zu begrüßen.
Er kehrte in die King Street zurück, vergewisserte sich mit einem Blick durchs Schaufenster, dass kein Kunde in dem Geschäft war, und betrat es dann.
»Seid Ihr Charles Talbot?«
Der Mann war mittleren Alters mit einem schmalen Gesicht, ebensolchen Lippen und extrem buschigen Brauen, die seine gesamte Erscheinung ungepflegt wirken ließen.
»Ja, der bin ich. Was kann ich für Euch tun, Sir?«
»Vor ein paar Minuten war eine junge Frau mit einem kleinen Jungen hier. Was war der Grund für ihren Besuch?«
Talbot lächelte dünn. »Ich bin bekannt für meine Diskretion, Sir. Ich gebe keinem Kunden Informationen über einen anderen.«
Nicholas klopfte ungeduldig mit seinem Spazierstock auf den Boden. Diese Unbotmäßigkeit war wirklich unerhört. Aber in seiner Situation war Zurückhaltung geboten. Er zwang sich zu Freundlichkeit. Der Trick bestand darin, seine Gedanken zu verbergen und ihnen entsprechend zu handeln, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.
»Ich habe sie nur von weitem gesehen, aber ich glaube, sie ist eine Verwandte von mir.« Er reichte dem Goldschmied seine Visitenkarte – eine der zehn, die er noch besaß. Der neuen, vom König unterzeichneten Verfassung entsprechend, hatte Nicholas seinen Titel, seinen Grundbesitz, sein Vermögen und seine Feudalrechte – kurz: seine Privilegien – verloren. »Ich komme gerade aus Paris«, setzte er hinzu. »Ihr wisst sicher von den Schwierigkeiten dort. Familien werden auseinandergerissen.«
Der Blick seines Gegenübers ließ kein Mitgefühl erkennen – aber Berechnung. Der Mann glaubte, ein Geschäft zu wittern, und Nicholas würde ihn in dem Glauben lassen.
»Und was haben die Schwierigkeiten in Frankreich mit mir zu tun …«, Talbot warf einen Blick auf die Visitenkarte, »Comte?«.
Der Ton, in dem der Mann den ererbten Adelstitel aussprach, erboste Nicholas. Er wusste, dass es Hunderte von Angehörigen des verliehenen Adels in England und Schottland gabn – der Dummkopf da kannte offenbar den Unterschied zwischen Erbadel und verliehenem Adel nicht.
»War sie hier, um Schmuck zu verkaufen? Einen Stein, vielleicht?«
»Wie ich Euch schon sagte – ich gebe keine Informationen weiter.«
Nicholas umklammerte, um Beherrschung bemüht, den elfenbeinernen Knauf seines Spazierstocks. Ursprünglich hatte das Familienwappen in Gold darauf geprangt, aber das hatte er vor ein paar Monaten verkauft, erstens, weil er das Geld brauchte, und zweitens, weil es, zumindest in Paris, sicherer war, sich nicht als Aristokrat zu erkennen zu geben.
»Es soll nicht Euer Schaden sein«, sagte er leise. »Ich bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten Stein, der Euch vielleicht von einer französischen Emigrantin angeboten wurde.«
Zu seiner Verärgerung reagierte der Goldschmied mit schallendem Gelächter, doch Nicholas verzichtete auf eine scharfe Bemerkung und setzte wieder sein freundliches Lächeln auf.
»Was erheitert Euch denn so an meiner Frage?«
Der Mann drehte sich um, öffnete eine Schublade in seinem Arbeitstisch, schöpfte eine Handvoll Steine heraus und ließ sie auf seinen Schaukasten fallen. Saphire, Rubine, Diamanten,
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