Ruf der Sehnsucht
das vergessen?«
Zu ihrer Überraschung lachte er schallend. »Natürlich nicht, Jeanne. Warum sollte ich sonst vorschlagen, Euch ein eigenes Haus zur Verfügung zu stellen?«
Seine Hand glitt von ihrem Hals über ihre Brust zu ihrer Taille. Als Jeanne sich versteifte, sagte er: »Ihr gewöhnt Euch besser daran, von mir berührt zu werden.« Seine Augen wurden schmal, und sein liebenswürdiger Ausdruck wich dem eines Mannes, der um seine Macht wusste – und um die Machtlosigkeit seines Opfers.
Sie hasste ihn, wie sie Schwester Marie-Thérèse hassen gelernt hatte – und ihren Vater.
Der erste und einzige Mann, dem sie sich hingegeben hatte, war ihre große Liebe gewesen. Nichts würde jemals so schön sein wie jene Monate in Paris. Ihre körperliche Vereinigung mit Douglas war nur eine andere Ausdrucksmöglichkeit ihrer Gefühle für ihn gewesen. Sie hatte ihre Jungfräulichkeit mit Freuden an ihn verloren, und ihre Verbundenheit war mit jedem Zusammensein größer geworden, jede Stunde, die sie getrennt waren, eine beinahe körperliche Qual.
Hartleys Angebot jedoch machte Sinnlichkeit zu etwas Schmutzigem, dessen man sich schämen musste. Was war der Mann doch für ein Narr, dass er nicht wusste, dass Leidenschaft ohne Gefühl schal und bedeutungslos war.
Als sie seine Berührung nicht abwehrte, lächelte er. »Ich dachte mir doch, dass Ihr Eure Lage richtig einschätzen würdet. Die Franzosen sind vielleicht kapriziös, aber sie besitzen auch einen gesunden Menschenverstand.«
Hartley umfasste ihren Nacken, zog sie zu sich heran und presste seinen Mund auf den ihren. Es war eher eine Brandmarkung als ein Kuss.
»Ihr werdet schon bald Gefallen daran finden«, sagte er, als er sich von ihr löste, und zog die Nadeln aus ihrem Haar. »Ihr seid keine Jungfrau mehr, habe ich recht, Jeanne?«
Als sie schwieg, lachte er leise. »Wusst ich’s doch. Ein Mann merkt das. Ihr habt so eine gewisse Reife.«
Aufatmend hörte sie draußen auf dem Flur schnelle Kinderschritte näher kommen und wich gerade rechtzeitig zur Seite aus, als die Tür aufging.
»Was tust du hier?«, herrschte Hartley seinen Sohn an.
»Das Kindermädchen sagt, es sieht nach Regen aus, und Robbie ist erkältet.«
Hartley drehte sich wieder Jeanne zu. »Ich besuche Euch heute Nacht, um Euch einen Vorgeschmack zu geben«, flüsterte er. »Stellt Euch darauf ein.«
Damit ging er, und Jeanne konnte endlich wieder frei atmen.
»Geht es Euch nicht gut, Miss?«, fragte Davis besorgt. »Ihr zittert.«
Zweimal setzte sie vergeblich zum Sprechen an, erst beim dritten Mal brachte sie wenig überzeugend »Es ist alles in Ordnung« hervor. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Mir fehlt nichts, Davis. Wirklich.«
In diesem Augenblick traf Jeanne eine Entscheidung.
Auch wenn sie dadurch ihr Dach über dem Kopf und ihr sicheres Auskommen verlöre – sie würde nicht Hartleys Mätresse werden. Sie hatte bewiesen, dass sie ein Überlebenskünstler war, und sie würde sich jetzt nicht geschlagen geben. Außerdem könnte sie es nicht ertragen, wenn Douglas, der schließlich hier in der Stadt lebte, erführe, dass sie sich verkauft hatte.
Nein – sie wählte die Freiheit und würde erdulden, was immer das Schicksal für sie bereithielt. Immerhin wäre es nicht das erste Mal.
Kapitel 10
I m Lauf des Nachmittags erkannte Jeanne, dass es eines ganz speziellen Mutes bedurfte, den Einbruch der Nacht abzuwarten. Das junge Mädchen von damals rief nach Douglas, damit er sie aus ihrer unerträglichen Situation befreie, aber die erwachsene Frau, die sie heute war, wusste, dass es in ihrer Welt keinen Ritter in schimmernder Rüstung mehr gab. Sie war allein auf sich gestellt.
Donnergrollen ließ sie ans Fenster treten. Am abendlichen Horizont zog ein Gewitter auf.
»Auch davon lasse ich mich nicht aufhalten«, sagte sie zu sich selbst, ging zum Kleiderschrank und holte den Koffer heraus, in dem sie die Überbleibsel ihres Lebens in Frankreich und die Gaben transportiert hatte.
Ihre Sachen zu packen dauerte nur Minuten. Zwei Nachthemden, zwei Unterhemden, drei Kleider, zwei Fichus, Morgenmantel, Hausschuhe, Handschuhe, ein Hut, einige an vielen Stellen gestopfte Strümpfe, ein zweites Schnürkorsett und die silberne Haarbürste, auch eine Gabe – das war alles.
Als sie den Gedichtband aus dem Schrank nahm, den sie aus den Ruinen von Vallans gerettet hatte, entglitt er ihrer Hand und fiel auf den Boden, öffnete sich beim Vorsatz. In ihrer
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