Ruf der Sehnsucht
alles rollte in einem glitzernden Durcheinander bis an die hölzerne Barriere.
»Versteht Ihr jetzt, warum ich gelacht habe?«
Nicholas schob die Steine mit dem Zeigefinger in eine Reihe. »Die sind unecht.«
»Allerdings – und nicht einmal gut kopiert. Eure Landsleute wollten sie mir als Originale andrehen. Ich behalte sie nur zum Spaß.«
»Oder vielleicht, um sie gutgläubigen Kunden zu verkaufen?« Die Habgier stand dem Goldschmied ins Gesicht geschrieben. Als er nicht auf die Herausforderung einging, fuhr Nicholas fort: »Ich bin auf der Suche nach einem Rubin – dem Somerville-Rubin. Er hat in etwa die Form eines Herzens.«
Sein Gegenüber schien zwar interessiert, schwieg jedoch.
Nicholas richtete sich zu seiner vollen Größe auf und erklärte herrisch: »Meine Gemahlin war die Tochter des Duke of Somerville. Der Stein war Teil ihres Erbes.«
»Er ist mir nicht untergekommen, Comte.«
»Er wurde entwendet, und ich glaube, dass er sich in Edinburgh befindet.«
»Ihr nehmt an, dass die Frau, nach der Ihr Euch erkundigt habt, ihn in ihrem Besitz hat?«, fragte Talbot.
»Ja, das tue ich«, gab er widerstrebend zu. Was er unerwähnt ließ, war, dass es sich bei der Frau um seine Tochter handelte, dass er ihr aus Frankreich hierher gefolgt war und dass er nichts von ihrer Flucht erfahren hätte, wenn seine ehemalige Hausdame nicht gewesen wäre. Justine war ihm nach wie vor treu ergeben und eine begnadete Bettgefährtin. Die einzige äußere Veränderung im Lauf der Jahre waren einige Silberfäden in ihrem prachtvollen roten Haar. Was ihre Innerlichkeit betraf, hatte sie eine überraschende Abneigung gegen Schmerzen entwickelt und eine ungesunde Religiosität. Eines Tages hatte er sie beim Gebet ertappt. Seine Mätresse auf den Knien liegen zu sehen, wie sie von Gott Vergebung für ihre Sünden erflehte, löste eine Mischung aus Belustigung und Verärgerung in ihm aus.
»Die Frau, nach der ich frage, ist eine Diebin. Sie hat den Stein gestohlen.«
Talbot musterte ihn, als wollte er den Wahrheitsgehalt dieser Aussage ergründen. Nicholas hielt seine Gereiztheit im Zaum und wartete.
»Die Frau ist bei der Familie Hartley angestellt«, bestätigte der Goldschmied schließlich Nicholas’ Information.
»Und was wollte sie hier?«
»Warum sollte ich Euch das sagen?« Wieder dieses dünne Lächeln.
»Weil sie eine Diebin ist.« Helen hatte den Stein per Ehevertrag ihrer Tochter vermacht – aber damals konnte keiner, der Comte, einst wissen, dass Frankreich einen Umsturz erfahren und er ein Leben am Rande der Armut fristen würde. Wenn er den Rubin verkaufte, könnte er sich einen gewissen Luxus leisten, bis in Frankreich wieder normale Zustände herrschten und er seine alten Privilegien genoss.
»Wenn das so ist, wird der Stein auf dem rechtmäßigen Weg an seinen wahren Besitzer zurückgegeben werden«, sagte Talbot.
Die beiden Männer fixierten einander fünf Pendelschwünge der Wanduhr lang.
Früher hatten Händler den Comte gebeten, ihre Waren bei ihm ausstellen zu dürfen, doch in den letzten beiden Jahren hatte er die Händler aufsuchen müssen, um ein Erbstück nach dem anderen für Lebensmittel und Kaminholz zu verkaufen.
Vallans, Frankreichs Messhandelsplatz, war dem Erdboden gleichgemacht und er, Nicholas, damit um seine Einkommensgrundlage gebracht worden. Es war ihm gelungen, ein paar Stücke aus dem Familienbesitz vor dem brandschatzenden Pöbel zu retten, aber sie gingen rasch zur Neige.
»Dann schlage ich Euch eine Vereinbarung vor.« Diesmal wirkte Talbots Lächeln aufrichtiger. »Ich informiere Euch, wenn sie versucht, den Rubin zu verkaufen, und Ihr stimmt zu, ihn mich für Euch verkaufen zu lassen.«
»Für eine beträchtliche Provision, versteht sich.« Nicholas fragte sich, ob der Mann vielleicht schon einen Käufer im Sinn hatte. Angesichts der mangelnden Exklusivität des Ladens bezweifelte er das zwar, aber er würde sich seine Bedenken nicht anmerken lassen.
»Eine
angemessene
Provision«, korrigierte der Goldschmied.
»Diese Vereinbarung bedingt natürlich, dass ich den Rubin zunächst zurückbekomme«, sagte Nicholas liebenswürdig.
»Ich werde mein Möglichstes dafür tun.« Talbot streckte ihm die Hand hin.
Nicholas du Marchand wusste, dass er dem Mann nicht trauen durfte, aber er ergriff die Hand trotzdem und lächelte.
Talbot war nicht der Einzige, der eine Gelegenheit erkannte, wenn sie sich bot.
Kapitel 9
J eanne stand am Fenster des Schulzimmers und
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