Ruf der Sehnsucht
Schulmädchenschrift hatte sie auf das Doppelblatt wieder und wieder den Namen geschrieben, den zu tragen sie sich damals für ihre Zukunft gewünscht hatte: Jeanne Catherine Alexis du Marchand MacRae. Wie dumm sie gewesen war. Jetzt trug eine andere Frau Douglas’ Namen.
Jeanne legte das Bändchen in den Koffer und griff noch einmal in den Schrank. Wehmütig strich sie mit der Hand über ihr Tagebuch. Auch dieses hatte sie aus den Ruinen von Vallans gerettet.
Als kleines Mädchen hatte sie zufällig einen lockeren Backstein in der Rückwand des Kamins der Bibliothek des Schlosses entdeckt. Von da an versteckte sie Schätze, die ihr Kindermädchen oder die Gouvernante nicht sehen sollte, in dem Hohlraum dahinter.
Nach der Räumung des Klosters war sie nach Vallans zurückgekehrt, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte. Das Château war, wie so viele andere Landschlösser auch, zerstört worden, doch sie hatte die Überreste des Kamins gefunden, der einst der zentrale Platz in der Bibliothek gewesen war, hatte mit bloßen Händen den Schutt beiseitegeräumt und die vier Kleinode, die sie neun Jahre zuvor dort deponiert hatte, aus dem Versteck geholt: Das Medaillon von ihrer Mutter, den Gedichtband, den Douglas ihr schenkte, nachdem er von ihrer Vorliebe für Poesie erfahren hatte, das Tagebuch und die spanische Fadenbrille mit den kleinen, runden Gläsern, dem bequemen Nasenbügel und den Fäden seitlich am Fassungsrand, die in Schlingen endeten, die man um die Ohren legte.
Sie war geliebt worden – von ihrer Mutter, von Douglas und von ihrer Gouvernante. Das bewiesen der Anhänger, der Gedichtband und die Brille.
Sie hob das Tagebuch auf. So klein es war, so groß war seine Macht zu verletzen. Vielleicht wäre es besser, wenn es ein Raub der Flammen geworden wäre. Sie scheute sich, die Eintragungen des hoffnungsvollen, jungen Mädchens von damals zu lesen – aber sie zwang sich, das Büchlein aufzuschlagen.
Seite 12:
Heute hat Douglas mich zum ersten Mal geküsst. Mein Herz schlug so heftig, dass ich dachte, es würde in meiner Brust zerspringen. Ich lag in seinen Armen, konnte nicht atmen und fürchtete mich beinahe. Niemand hat mir gesagt, welche Macht ein Kuss besitzt. Niemand hat mir gesagt, dass der Verstand dabei aussetzt. Pater Haton sagt, dass Gott den Sünder verdammt, der die Genüsse des Fleisches vor der Ehe kostet, aber ich kann einfach nicht damit aufhören, Douglas zu küssen.
Seite 24:
Meine Füße berühren das Kopfsteinpflaster nicht, und auch mein Herz fühlt sich an, als hätte es Flügel. Macht die Liebe Engel aus Sterblichen? Auch wenn du mich verdammst, lieber Gott – ich liebe Douglas. Ich liebe es, wie er lacht, wie er die Augen zukneift, wenn er amüsiert ist. Ich liebe die Leidenschaft, mit der er einen Standpunkt vertritt, und sogar den entsetzlichen Akzent, mit dem er Französisch spricht. Ich liebe seine Familie, weil er es tut, ich liebe Karotten, weil er es tut, und ich liebe es, wie seine wunderschönen, blauen Augen leuchten, wenn er einen Vogel singen hört.
Jeanne drückte die Hand auf die Seite, als könnte sie so die Gefühle erspüren, die sie bei der Niederschrift dieser Worte erfüllt hatten.
Der Schmerz war zu groß – sie konnte nicht weiterlesen. Aber sie wusste noch, wie der letzte Eintrag lautete.
Meine Zeit ist gekommen, und ich schwanke zwischen Vorfreude und Furcht. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, Douglas zu benachrichtigen. Wir werden ein Kind bekommen, und das sollte er wissen. Aber würde er zu mir kommen, wenn er es wüsste? Mein Herz sagt ja, obwohl ich nie mehr etwas von ihm gehört habe. Ich bete zu Gott, dass ich eine gute Mutter werde und mein Vater mir verzeiht, wenn er sein Enkelkind sieht. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin sicher, dass Douglas mich und unser Kind zu sich holen wird.
Tags darauf war sie ins Kloster geschickt worden.
Ihr Vater hatte sie von einem Moment auf den anderen fallenlassen, seine angeblich geliebte Tochter um seines Stolzes willen verstoßen, und war über die Jahre hinweg unversöhnlich geblieben.
Jeanne legte ihr Tagebuch obenauf, schloss den Koffer und verließ damit das Zimmer.
Am Kopf der Treppe blieb sie stehen, lauschte auf etwaige Schritte. Als sie in der ersten Etage anlangte, hörte sie eine leise Unterhaltung: Hartley war bei Althea, spielte den liebenden Gemahl, bevor er sich zu Jeanne begäbe.
Auf Zehenspitzen schlich Jeanne ins Erdgeschoss
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