Ruf der Sehnsucht
Vallans, die Tür war so niedrig, dass Douglas sich bücken musste. Als seine Augen sich an das Dämmerlicht in dem fensterlosen Raum gewöhnt hatten, der nur durch Mauerritzen Licht erhielt, nahm er einen roh zusammengezimmerten Tisch mit zwei Stühlen und einen zur Hälfte hinter einem Vorhang verborgenen Korb wahr.
»Was wollt Ihr?«, fragte die Frau, die Hände in die Schürze gekrallt, an die unverputzte Backsteinmauer gedrückt. Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Der Mann neben ihr ließ die Schultern hängen und hielt mit beiden Händen eine Pfeife umklammert wie einen kostbaren Schatz.
Douglas hatte nicht erwartet, dass die Leute so alt wären.
»Ihr habt ein Kind bei Euch, die Tochter von Jeanne du Marchand. Wo ist sie?«
Die beiden wechselten einen Blick, schwiegen jedoch.
»Seid Ihr bereit, für Euer Schweigen zu sterben?«
Er hörte Mary hinter sich nach Luft schnappen, versicherte ihr aber nicht, dass er das alte Ehepaar nicht wirklich zu töten beabsichtige. Denn wenn sie seine Tochter nicht herausgäben, würde er es vielleicht doch tun.
»Das Kind ist uns anvertraut worden«, sagte die Frau bockig.
»Und ich bin sein Vater – ich nehme es mit.«
»Sie ist uns ans Herz gewachsen wie eine eigene Tochter.«
»Sie ist
meine
Tochter.« Ein leises Greinen aus dem Korb ließ Douglas aufhorchen. Er riss den Vorhang zurück und starrte voller Entsetzen auf das Bild, das sich ihm bot.
Das in stinkende Lumpen gewickelte Kind war bis aufs Skelett abgemagert, die Fliegen, die es umsummten, schienen mehr zu wiegen. Mary, die zu ihm getreten war, wollte die Kleine hochnehmen, doch Douglas hinderte sie daran.
»Nicht«, brachte er mit einer Mischung aus Freude, dass er seine Tochter gefunden hatte, und Angst, dass sie den Tag nicht überleben würde, mühsam hervor. Als er sie sich in den Arm legte, reckte sie ihre kleine Faust in die Luft, und er drückte ergriffen einen Kuss darauf.
Als sie aufhörte zu weinen und die Augen schloss, glaubte er, sie wäre gestorben, und sein Herz begann vor Panik zu rasen, doch dann bewegte sie sich wieder. Er drehte sich zu den alten Leuten um.
»Sie ist fast verhungert«, sagte er.
»Wir haben von dem Geld, das die Frau uns gab, eine Amme bezahlt, aber das Kind wollte einfach nicht trinken.«
Mary wickelte den kleinen Körper in ihr Fichu und legte Douglas sein Kind dann wieder in den Arm.
»Können wir sie retten?«, fragte er seine Schwägerin.
Ihre Miene machte ihm keine großen Hoffnungen.
Aber als seine Tochter die Augen wieder öffnete und ihn ansah, erkannte er seine Eltern und Brüder in dem kleinen Gesicht. Sie war eine MacRae, und er betete, dass sie auch die Willensstärke der MacRaes besaß.
»Kämpfe«, flüsterte er ihr zu. »Bitte, kämpfe.«
Er war entschlossen gewesen, seine Kind zu sich zu nehmen, doch er hatte nicht erwartet, einen so überwältigenden Beschützerinstinkt in sich erwachen zu spüren oder eine so spontane und innige Liebe.
»Wir werden sie retten«, sagte er zu seiner Schwägerin. »Wir schaffen es.«
Sie antwortete nicht, wies ihn nicht darauf hin, dass dazu ein Wunder vonnöten wäre, nickte nur unter Tränen.
»Wie ist ihr Name?«, wollte er von dem alten Mann wissen.
Der schüttelte den Kopf, und seine Frau zuckte mit den knochigen Schultern.
»Wir haben ihr keinen gegeben«, sagte sie.
Nicht einmal das, dachte Douglas grimmig und wandte sich zum Gehen.
»Ihr könnt sie nicht mitnehmen«, protestierte die Alte.
»Was ist, wenn jemand nachschauen kommt?«
»Ich bezweifle stark, dass das passieren wird«, erwiderte Douglas höhnisch, und plötzlich packte ihn ein unbändiger Zorn auf alles Französische. Auf das Land, auf die Leute, sogar auf die Sprache. Auf alles außer das Kind, das so leicht wie eine Feder in seinem Arm lag.
Gefolgt von Mary trat er in den Sonnenschein hinaus. Auf dem Weg zu den Pferden, wo Hamish wartete, kam die Frau ihnen hinterhergelaufen.
Douglas wartete, bis Mary im Sattel saß, reichte ihr dann das Kind hinauf und drehte sich seinem Bruder zu. »Gib ihr Geld.«
Hamish zog einen kleinen Lederbeutel aus der Weste und warf ihn der Alten zu. Sie öffnete ihn und schnappte angesichts des Inhalts hörbar nach Luft. Mit diesen Goldmünzen wären sie und ihr Mann bis ans Ende ihrer Tage aller Sorgen ledig.
»Es ist nicht etwa eine Belohnung«, erklärte Douglas ihr, »sondern Schweigegeld. Falls doch jemand nach dem Kind fragen sollte, sagt Ihr, dass es gestorben ist.«
Die Frau
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