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Ruf der Sehnsucht

Ruf der Sehnsucht

Titel: Ruf der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Ranney
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haltmachen würde, um seine Ziele zu erreichen.
    Charles war aus dem gleichen Holz geschnitzt. Jetzt war nur die Frage, wer von ihnen beiden bekommen würde, was er wollte.

Kapitel 19
    D ie neun Jahre im Kloster waren von Entbehrungen geprägt gewesen. Jeanne hatte sich an eine Mahlzeit pro Tag gewöhnt, an die Kargheit ihrer Zelle und sogar an das Sprechverbot, doch der Verzicht auf ihren liebsten Zeitvertreib, das Lesen, bekümmerte sie täglich aufs Neue. Dabei hätte sie, selbst wenn es ihr gestattet gewesen wäre, keinen Gebrauch von der Erlaubnis machen können, denn ihre Brille lag in dem Versteck in Vallans, und ohne sie konnte sie keinen Buchstaben erkennen. Jetzt jedoch saß das kostbare Stück auf ihrer Nase. Jeanne hatte in der Bibliothek
Tom Jones, Die Geschichte eines Findlings
ausgewählt und war völlig gefesselt von dem Roman.
    Jeden Nachmittag setzte sie sich mit dem Buch ins Wohnzimmer, legte die Füße auf den gelbseidenen, gepolsterten Schemel und tauchte in die Welt der Phantasie ein. Es bewahrte sie zumindest für Stunden davor, Douglas zu vermissen.
    Manchmal brachte Betty ihr Tee, ließ sie nach einem kleinen Schwatz jedoch wieder allein. Heute hatte sie kein Tablett dabei, als Jeanne das Klopfen des Kindermädchens mit einem »Herein« beantwortete.
    »Ihr habt Besuch, Miss«, verkündete Betty. »Eigentlich wollte Lassiter ihn Euch melden, aber ich sagte ihm, dass ich es Euch wissen lassen würde. Wollt Ihr Euren Gast hier empfangen?«
    Lassiter wusste nicht recht, wie er Jeanne begegnen sollte. Als Gouvernante war sie ihm nicht unterstellt, weshalb er sie einfach ignorieren könnte. Andererseits hatte Douglas angeordnet, sie wie einen Gast zu behandeln, was den Majordumus verpflichtete, um ihr Wohlergehen besorgt zu sein, sie bezüglich der Mahlzeiten nach ihren Wünschen zu fragen und sich diensteifrig zu zeigen. Diese Diskrepanz führte dazu, dass er zwischen Ablehnung und übertriebener Unterwürfigkeit schwankte.
    »Besuch?« Jeanne erhob sich, legte das Buch auf den Tisch und nahm die Brille ab. »Ich wüsste nicht, wer mich besuchen sollte.« Die einzigen Menschen, die sie außer den Hartleys in Edinburgh kannte, waren diejenigen in der Emigrantengemeinde, und von denen wusste keiner, dass sie hier war.
    »Er sieht wie ein feiner Herr aus«, berichtete Betty, »trägt einen eleganten Anzug mit einer goldbestickten Weste und hat einen Spazierstock dabei. Ich dachte schon, er würde Lassiter damit schlagen, so ungeduldig verlangte er, Euch zu sehen.«
    »Einen solchen Mann kenne ich nicht«, empörte Jeanne sich.
    »Soll ich ihn hereinführen?«
    Jeanne nickte, strich über ihren Rock und dann über ihre Frisur und wünschte, sie hätte Zeit, einen Blick in den Spiegel zu werfen, ehe sie den geheimnisvollen Gast begrüßte.
    Wer kam sie da besuchen? Robert Hartley? Gewiss nicht. Sie atmete tief durch, wandte sich der Tür zu und legte die Hände zusammen.
    Als der Besucher den Raum betrat, gaben ihre Beine nach. Gottlob stand der Sessel hinter ihr. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Mann an, als wäre er ein Gespenst.
    Die Falten um seine Augen herum und die weißen Fäden in seinem blonden Haar waren zahlreicher geworden, doch ansonsten waren die Jahre spurlos an ihm vorübergegangen.
    Seine Aufmachung war nicht mehr so prächtig wie in ihrer Erinnerung. Die Weste war zwar wirklich goldbestickt, die Grundfarbe jedoch ein dunkles Braun. Er trug keinerlei Juwelen, weder an den Fingern noch auf den Schuhschnallen, strahlte aber trotzdem Wohlstand aus.
    »Guten Tag, Vater«, begrüßte Jeanne ihn, blieb aber sitzen.
    Er überging ihre Unhöflichkeit. »Du siehst gut aus, Jeanne.«
    »Ihr auch, wenn man bedenkt, dass Ihr tot seid«, erwiderte sie sarkastisch. »Wie ist es Euch gelungen aufzuerstehen?«
    »Ich streute das Gerücht von meinem Tod des Pöbels wegen aus. Ich wurde ein Bürger.«
    Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war sie auf seinen Befehl hin in eine Kutsche gesetzt worden, die sie ins Kloster Sacré-Cœur bringen sollte. Er hatte ihr verzweifeltes Flehen und ihre Tränen ignoriert, als wäre sie eine hysterische Fremde.
    »Warum seid Ihr gekommen?« Sie dachte nicht daran, ihm Platz oder eine Erfrischung anzubieten, wie es die Höflichkeit geboten hätte. Von ihr aus könnte er verhungern, verdursten oder vor Schwäche zusammenbrechen.
    »Was für eine herzliche Begrüßung.« Er lächelte, doch sie bemerkte, dass seine Augen wachsam blieben wie die eines

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