Ruf der Sehnsucht
das müssen wir«, gab Jeanne ihr recht.
Als sie die Treppe hinunterging, lächelte sie dem jungen Dienstmädchen zu, das die Stäbe des Geländers abwischte. Jeannes Gastspiel bei den Hartleys war kurz gewesen, hatte ihr jedoch Einblick in das Leben von Dienstboten gewährt. Sie waren mehr auf ihr eigenes Wohl bedacht gewesen als auf das ihrer Herrschaft. Bei Douglas war das anders. Die Hausangestellten hatten zwar auch ihren Spaß, aber sie arbeiteten fleißig. Jeanne bezweifelte stark, dass seinerzeit in der Küche von Vallans eine so gute Stimmung geherrscht oder eine solche Zuneigung gegenüber dem Hausherrn bestanden hatte wie hier.
Wenn sie mit den Dienstboten zusammen gemeinsam aß und die Rede, was oft geschah, auf Douglas kam, gab es keine anzüglichen Blicke in ihre Richtung. Dass alle hier im Haus sich so diskret verhielten, hatte sie ja schon während seiner Abwesenheit erfahren, und Bettys Verhalten damals hatte ihr sogar Akzeptanz gezeigt.
Betty erwartete sie unten mit einem Korb. Jeanne nahm ihn ihr ab und hätte ihn beinahe fallen lassen, weil sie nicht mit seinem Gewicht gerechnet hatte. »Das fühlt sich an, als würde eine Kompanie davon satt werden«, meinte sie lächelnd.
»Die Köchin ist immer darauf bedacht, dass Miss Margaret genug zu essen bekommt. Seit ihrer frühesten Kindheit wollen alle sie mästen.«
Auf Jeannes fragenden Blick hin erklärte sie: »Sie war damals viel zu dünn.«
Bevor Jeanne weiterfragen konnte, rief Margaret nach ihr. Das Kind stand schon an der Tür, konnte es offensichtlich nicht erwarten, in das schöne Wetter hinauszukommen.
Jeanne dankte Betty für den Proviant und folgte Margaret ins Freie.
»Hast du das Buch mitgenommen?«, fragte sie.
Margaret nickte und zeigte ihr das Exemplar von
Lob der Torheit,
das sie in der Hand hielt. »Müssen wir diesen Erasmus wirklich lesen, Miss du Marchand? Er schreibt so trocken.«
Jeanne blieb hart. »Ja, wir müssen.«
Margaret blickte seufzend gen Himmel.
Jeanne lächelte in sich hinein. Sosehr sie das Mädchen mochte, sie war sich Margarets eisernen Willens durchaus bewusst. In dieser Hinsicht glich sie ihr selbst. Aber wo hatte ihr Starrsinn sie schließlich hingebracht?
»Du wirst feststellen, dass er viel Interessantes zu sagen hat«, lockte sie.
»Das haben doch die meisten Erwachsenen«, erwiderte Margaret.
Das Kind überraschte sie doch immer wieder. »Ach ja?«
»Zumindest meine Onkel«, setzte Margaret hinzu. »Und Papa, natürlich.« Sie blinzelte Jeanne schelmisch zu. »Und Ihr, natürlich auch, Miss du Marchand.«
Sie wurde geneckt, und es machte ihr Spaß. »Es freut mich, das zu hören, Margaret. Das wird Erasmus erträglicher für dich machen.«
Mit einem Lächeln erkannte Margaret Jeanne den Sieg in ihrem kleinen Scharmützel zu.
»Papa will hier einen richtigen Park anlegen lassen«, erzählte sie. »Er hat schon einen Plan mit Terrassen und Hecken und Beeten gezeichnet.«
»Es erscheint mir fast eine Sünde, diese natürliche Schönheit zu zerstören«, sagte Jeanne angesichts der Blumen, Büsche und Bäume, die sich hier ein ungezwungenes Stelldichein gaben. »Aber ein gestalteter Park ist natürlich auch schön«, beeilte sie sich hinzuzufügen.
»Ihr solltet Gilmuir sehen«, schwärmte Margaret. »Es ist wunderwunderschön. Ich wünschte, wir würden dort wohnen, aber Papa hat sein Unternehmen in Leith.«
»Ich frage mich, warum er sich ausgerechnet in Edinburgh niedergelassen hat.«
»Meinetwegen.« Margaret blieb unter der Eiche stehen. Jeanne breitete nahe dem Stamm die Decke aus.
»Wie das?«
Margaret lächelte. »Papa sagte, er wollte ein Imperium für mich schaffen, damit ich eine reiche Erbin würde.« Sie kicherte. »Ich wäre lieber auf dem Schiff geblieben, aber Papa meinte, an Land wäre das Leben nicht so gefährlich für mich.«
»Und warum hat er Edinburgh ausgewählt?«
»Onkel James lebt in Ayleshire, Onkel Alisdair auf Gilmuir, Onkel Brendan in Inverness und Onkel Hamish auf See.«
Jeanne strich die Decke glatt. »Unter diesen Umständen verstehe ich seine Entscheidung.«
»Edinburgh war der einzige Ort, wo noch kein MacRae wohnte«, bestätigte das Mädchen Jeannes Schlussfolgerung.
Sie machten es sich gemütlich und aßen Fleischpastete und hinterher Apfelkuchen.
Nach dem Essen gab Jeanne dem Mädchen ihre Brille. »Jetzt ist Erasmus dran.«
Laut seufzend legte Margaret die Schlingen um die Ohren, schlug das Buch auf und las weiter, wo sie stehengeblieben
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