Ruf der Sehnsucht
Mit dem Sohn der Hartleys war sie ebenso freundlich umgegangen.
Was war vor zehn Jahren wirklich geschehen? Hatte er ihr all die Zeit unrecht getan? Je länger er sie erlebte, umso mehr Fragen taten sich auf, bis Douglas überhaupt nicht mehr wusste, was er denken sollte.
Ungeduldig ging er vor dem Haus auf und ab, blickte immer wieder auf die Uhr, als müsste ein bestimmter Termin eingehalten werden.
Und dann wurde endlich die Tür geöffnet, und Margaret kam mit vor Aufregung roten Wangen die Treppe heruntergelaufen. Von Liebe überwältigt, breitete er die Arme aus, und seine Tochter sprang hinein, wie sie es als kleines Kind getan hatte.
Es war ihm bewusst, dass er sie zu einem gesitteteren Benehmen anhalten sollte, aber er sagte nur: »Irgendwann wirst du zu groß dafür sein, Meggie.« Sie hatte noch genug Zeit, erwachsen zu werden – hundert Jahre mindestens. Dann könnte er den Gedanken vielleicht ertragen, sie an einen anderen Mann zu verlieren.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und gab ihm einen schallenden Kuss auf die Wange. »Ich glaube, ich will gar nicht groß werden.«
»Es eilt auch nicht damit, denn wenn du groß ist, bin ich ein alter Mann«, scherzte er.
Sie neigte den Kopf zur Seite wie ein neugieriger Vogel. »Du wirst immer der schönste bleiben, Papa – auch wenn dein Haar weiß ist und dein Bart auf dem Boden schleift.«
Er lachte. »Schmeichlerin.«
Jeanne trat aus der Tür und lächelte zu Margaret hinunter, und Douglas fragte sich, wie es möglich war, dass die Mutter ihre Tochter nicht erkannte. Sie gesellte sich zu ihnen und strich mit den Fingern über Margarets Schulter. Eine liebevolle, fast beschützende Geste.
Zu seiner Überraschung erzürnte sie ihn.
Douglas fuhr sich mit der Hand durchs Haare und schalt sich im Stillen einen Schwachkopf. Er sollte sich darüber freuen, dass Jeanne seiner Tochter so viel Sympathie und Sorgfalt angedeihen ließ. Stattdessen lag ihm auf der Zunge, sie zu fragen, wie es kam, dass sie so viele Jahre gebraucht hatte, um sich um ihr Kind zu sorgen. Warum hatte sie es im Stich gelassen?
Sie war der einzige Mensch, der ihn von einem intelligenten Mann in einen liebeskranken Tölpel verwandeln konnte. Vielleicht war er deshalb so wütend.
Da er den beiden Menschen, die er auf der Welt am meisten liebte, auf dem Weg zum Hafen gegenübersaß, hatte er ausgiebig Gelegenheit, sie zu betrachten. Selbst ein Fremder würde bemerken, dass sie verwandt waren. Margaret ähnelte zwar äußerlich mehr seiner Familie, doch bestimmte Eigenheiten wie das Schulterzucken und das trotzige Heben des Kinns, das ansteckende Lächeln und das schallende Lachen hatte sie eindeutig von ihrer Mutter.
Manchmal dachte er, dass Jeanne einfach nicht sehen
wollte,
wessen Gouvernante sie war.
Bis neulich nachts hatte sie ihren gemeinsamen Sommer mit keinem Wort erwähnt und auch das Kind nicht, das aus ihrer Liebe hervorgegangen war. Ob sie wohl manchmal wie Margaret aus Alpträumen hochschreckte? Ob sie wohl manchmal ihr Gewissen plagte? Ob sie sich wohl manchmal wünschte, anders gehandelt zu haben, mit mehr Bedacht, mit mehr Mitgefühl, mit mehr Barmherzigkeit?
»Was werden wir alles sehen, Papa?«, drang Margaret in seine Grübelei ein.
Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich verrate nichts – du wirst dich gedulden müssen.«
Sie drehte sich Jeanne zu. »Das letzte Mal waren wunderschöne geschnitzte Masken da, Miss du Marchand. Und Kugeln, die wie der Wind klangen, wenn man sie schüttelte.«
»Ich denke, es war Sand darin«, steuerte Douglas bei.
»Und es gab Felle von Löwen und Tigern und riesige Stoßzähne von Elefanten. Aber Ihr müsst aufpassen, damit Ihr Euch nicht verirrt«, gab sie die Anweisung ihres Vaters bei ihrem ersten Besuch der Lagerhäuser in Leith an ihre Gouvernante weiter. Damals war Margaret fünf Jahre alt gewesen, erinnerte er sich, und allein schon von der Größe der Gebäude überwältigt. Inzwischen kannte sie natürlich alle Ecken und Winkel.
Das Getrappel der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster war in dem verkehrsarmen Viertel besonders laut zu hören. Sie fuhren auf der Princess Street westwärts, die irgendwie ungleichgewichtig wirkte, da sie nur auf der Südseite bebaut war, was den Anwohnern einen ungehinderten Blick auf das Edinburgh Castle ermöglichte.
Die New Town mit ihren schnurgeraden Straßen, weitläufigen Plätzen und Parks war dafür konzipiert worden, den wohlhabenderen Edinburghern reichlich Platz zum Atmen
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