Ruf Der Tiefe
Leon allein zum Meer hinunter. Das strudelnde Weißwasser einer Welle umspülte seine Schienbeine und kühlte seine wunden Füße. Lucy, wo bist du?
In der Nähe , kam es vergnügt zurück und Lucy sandte ihm ein Bild des Meeresbodens rund um ihre Höhle. Fein hier. Großviel Beute habe ich schon. Machen wir das, was ihr nennt Urlaub?
Ja, irgendwie schon. Leon musste lächeln, ließ sich ins Wasser gleiten und bekam ein paar Minuten später achtarmige Gesellschaft. Er berichtete Lucy, was geschehen war, dass sie gerade versuchten, andere Leute darauf aufmerksam zu machen, was die ARAC tat. Doch obwohl er versuchte, es krakengerecht zu erklären, kam nur zurück: Menschen sind vielgroß seltsam! Die meiste Zeit beschäftigt mit Dingen ohne Sinn!
Mit einem Seufzer gab er auf. Heute verstand ihn nicht mal seine Partnerin. Mach’s gut, Lucy. Morgen fahre ich los, um Tim zu treffen. Ich komme zurück, sobald ich kann, okay? Ein wortloser Abschiedsgruß flutete zurück, hüllte seinen Geist ein und wärmte seine Seele. Einen Moment lang blickte Leon noch aufs Meer hinaus und wäre am liebsten losgeschwommen, einfach so, ohne jedes Ziel. Tief sog er die feuchte, salzige Luft ein.
Dann kehrte er um.
Er bekam gerade noch mit, wie Old Joe feierlich die Sonnenbrille abnahm und damit die Abendversammlung eröffnete. Wie am Tag zuvor ließ sich Leon neben Carima nieder, zwei Schritte hinter Leah, Hope und Fränkie, die ihm jetzt den Rücken zuwandten. Gerade nahmen sich die NoComs an den Händen und spontan folgten Leon und Carima ihrem Beispiel. Als die NoComs ihr Bekenntnis wiederholten, schloss Leon die Augen und sprach in Gedanken mit.
We will honor and cherish every living thing
Bewahren. Beschützen. Ja. Dieser Weg war auch der seine, es wurde ihm mit jedem Tag klarer. Es konnte doch nicht seine Lebensaufgabe sein, irgendwelche Bodenschätze zu suchen und damit den Gewinn der ARAC zu maximieren oder wie das die Managertypen nannten! Viel zu lange hatte er mitgemacht dabei.
We will care for the earth with all our tenderness
Vielleicht war es auf irgendeine seltsame Art kein Zufall gewesen, dass er bei den NoComs im Waipi’o Valley gelandet war – an genau dem Ort, der jetzt der richtige für ihn war. Nein, Zufall war es sowieso keiner gewesen, sondern Jonah Simmonds, der vielleicht doch nicht so durchgeknallt war, wie er wirkte.
Wherever we go, whatever we do …
we will leave nothing but footprints.
Das Gemurmel vieler Stimmen vibrierte durch Leon hindurch wie das Summen in der Luft vor einem Sturm. Und als das Ritual des Triskells begann, überraschte er sich selbst damit, dass er aufstand.
»Ich werde Zeugnis ablegen für das Meer«, sagte er mit fester Stimme. »Wenn ich darf.«
Dreißig verblüffte Augenpaare wandten sich ihm zu, und von einem Moment auf den anderen war es so still auf dem Versammlungsplatz, dass sein eigener Herzschlag Leon in den Ohren dröhnte. Schließlich nickte Old Joe.
Ohne nachzudenken, sprach Leon. »Vor ein paar Tagen bin ich mal wieder runtergetaucht, immer tiefer, dorthin, wo das Meer nicht mehr blau ist, sondern schwarz. Es ist ein Ort, der mir viel bedeutet. Dort zu sein ist wie einzutauchen in die eigene Seele – oder in einen Nachthimmel, in dem die Sterne sich bewegen. Ich werde alles tun, um diesen Ort zu bewahren, und hoffe, dass ich irgendwann, irgendwie dorthin zurückkehren kann.«
Die sandige Erde war kühl unter seinen Füßen, als er an einer Feuerschale vorbei zur Mitte des Versammlungsplatzes ging, den Stock nahm und die erste Linie zum Mittelpunkt des Triskells führte.
Dann setzte er sich wieder – und noch immer sagte niemand ein Wort. Was war los? Hatte er sie auf irgendeine Art schockiert? Auch Carima blickte ihn auf ganz eigenartige Weise an, und einen Moment lang versank er im Anblick ihres Gesichts, ihrer Augen, denen das Licht des Feuers einen warmen Glanz gab …
Nach der Zeremonie schlenderte jemand zu ihnen hinüber – Moment mal, das war doch Big T.! »Hey, was geht ab?«, nuschelte er und ließ sich so ungelenk neben ihm und Carima nieder wie ein Storch, der seine langen Beine irgendwie in seinem Nest unterbringen muss. »Ellyn hat schon erzählt, du bist ’n Taucher. So richtig. Was sagst du da, du kannst nicht zurück ins Meer? Echt uncool, Mann. Irgendwas, was man helfen kann, so ganz nebenbei?«
Als Leon über seine Überraschung hinweg war, frotzelte er: »Na ja, ein Kanister Perfluorcarbon, frisch mit Sauerstoff angereichert,
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