Ruf der Vergangenheit
gedacht, aber er war schon verloren, als er in die grünen Haselaugen sah. Aufstöhnend zog er sie an sich und biss ihr zart in die Unterlippe. „Ich weiß, was du vorhast.“
Ihre Augen wurden zu dunkler Jade mit Tigeraugenflecken. „Lass mich.“
„Das kann ich nicht.“
Nach einiger Zeit seufzte sie. „Ich will dich nicht verlieren.“
Er sah sie an, hoffte, sie würde ihn verstehen.
„Nein“, sagte sie nach etwa einer halben Minute. „Wenn ich du wäre, würde ich mich auch nicht für den sicheren Weg entscheiden.“
Weil sie sein Bedürfnis akzeptierte, sie zu schützen, gab er ihr einen Kuss.
Sie legte den Kopf an seinen Hals. „Nur noch ein paar Minuten.“
„Genehmigt.“ Alles musste exakt an seinem Platz sein, oder ihr Vorhaben würde ihnen um die Ohren fliegen. Wenn sie keinen Fehler machten, würde der Ratsherr ein physisches Treffen dem nur geistigen vorziehen. Denn auf der geistigen Ebene wäre Katya ihm völlig ausgeliefert – Dev war sicher, dass Ming einen geheimen Zugang zu ihrem Kopf hatte, durch den er leicht den Schild umgehen und alles erfahren konnte, was er wollte.
„Hast du erst als Soldat gelernt, dich so abzuschotten?“
Schatten regten sich in seinem Kopf, raunten unablässig. Er wehrte sich dagegen, wieder in die von Trauer durchsetzte Vergangenheit gezogen zu werden. „Warum fragst du?“
„Dich umgibt irgendetwas … als säße das Bedürfnis nach Kontrolle tief in deinem Herzen.“
„So kann man es auch sagen.“ Er holte tief Atem und strich ihr über das Haar. „Ich habe dir erzählt, dass mein Vater meine Mutter getötet hat. Aber ich habe dir bisher verschwiegen, dass ich dabei zusehen musste.“ Seine Stimme schwankte nicht, die Worte waren klar und deutlich. Das Abtöten von Gefühlen war die einzige Waffe gegen die schrecklichen Schatten.
„Ach, Dev.“ Geflüsterte Worte, die seinen Schmerz spiegelten. „Wie alt warst du damals?“
„Alt genug, um entsetzt zu sein, wie mein Vater meiner Mutter die Hände um den Hals gelegt hatte, aber zu jung, um ihn davon abzuhalten.“ Seither verfolgten ihn die Erinnerungen. Wäre er nur stärker gewesen. Doch er war ein schmaler Junge von gerade mal neun Jahren, sein Vater dagegen groß und sehr kräftig. „Er hätte mich vielleicht auch umgebracht, aber meine Mutter hatte telepathisch um Hilfe gerufen.“
Er hörte immer noch das Bersten der Tür, das Getrampel der Stiefel und die Schreie, dann hatten Fäuste seiner Mutter auf die Brust geschlagen, hatte man sie beatmet. Ihre Brust hatte sich gehoben und wieder gesenkt, er hatte Hoffnung geschöpft … bis ihm schließlich klar wurde, dass sie es nicht selbst tat, dass sie gar nicht mehr atmen konnte.
„Die Retter haben erst nach zehn Minuten bemerkt, dass ich im Zimmer war.“ Ein Schlag von seinem Vater hatte ihn in die Ecke geschleudert, von wo aus er blutend und benommen zusehen musste, wie seine Welt zerbrach. „Ich sah, wie sie meinen weinenden, schluchzenden Vater aus dem Zimmer zerrten, dann wurde meine Mutter für tot erklärt.“
Katya küsste ihn tröstend auf die Stirn. „Im Feuer geschmiedet“, murmelte sie. „Dein Vater hatte eine psychotische Episode?“
„Ja. Er ist nie wieder ganz er selbst geworden. Die meiste Zeit verbringt er in einer Anstalt in Pennsylvania. Ein schöner Ort mit Gärten und Bäumen, friedlich, doch er verlässt sein Zimmer nur, wenn man ihn dazu zwingt oder ich ihn besuche.“
„Gehst du oft hin?“
„Nein.“ Er legte die Hand fest auf ihre Hüfte. „Der vernünftige Erwachsene in mir weiß, dass mein Vater nicht bewusst gemordet hat. Deshalb gehe ich überhaupt hin. Aber sobald ich vor ihm stehe, bin ich wieder ein Kind und sehe, wie er das Leben meiner Mutter auslöscht. Und ich kann den letzten Schritt nicht machen – und ihm verzeihen.“
„Zumindest –“, sagte Katya gerade, als Devs Uhr sich meldete.
„Das kann warten“, sagte er, beschämt darüber, wie erleichtert er war. „Wir müssen los.“
Fünfundvierzig Minuten später standen sie mit dem Wagen vor einer Reihe Lagerhäuser am östlichen Rand von Queens. Katya saß hinter dem Steuer. Dev hatte diesen Ort aus zwei Gründen gewählt – erstens lag er abseits, sie würden also kaum gestört werden, und zweitens bot er den Schützen ein gutes Sichtfeld.
„Alles klar“, sagte er und sah auf sein Handy. „Das Geschäftsessen nähert sich dem Ende. In spätestens zehn Minuten fährt er los. Die Beobachter haben bestätigt, dass der
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