Ruf der verlorenen Seelen
machte.
Als er sich zum Gehen wandte, blieb Violet, wo sie war, im
Dämmerlicht des Flurs, und schaute ihm nach.
Sie schloss die Augen und fragte sich, was Sara seiner Meinung
nach tun konnte, um ihr zu helfen. Erst nach mehreren
Sekunden öffnete sie die Augen wieder, um sich zu vergewissern,
dass er wirklich weg war.
Sie schaute in den Flur und stockte.
Sie war nicht allein.
Da stand Jay und sah sie an. Ohne ein Wort zu sagen.
Violet ärgerte sich über seinen vorwurfsvollen Blick, oder
vielleicht war es auch nur ihr schlechtes Gewissen, das sie in
ihm gespiegelt sah.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatten, als er
sich schlieÃlich umdrehte und wieder in den Kinosaal ging,
ohne auf sie zu warten.
Da merkte sie, wie die Tränen kamen. Scham und Reue
überwältigten sie, brannten ihr unter der Haut, so sehr, dass sie
lieber wieder wie betäubt gewesen wäre.
Sie flüchtete in den Toilettenraum, spritzte sich Wasser ins
Gesicht â als könnte sie etwas von dem schlechten Gewissen
wegwaschen.
Warum konnte sie sich Jay nicht anvertrauen?
Warum hatte sie so viele Geheimnisse?
Violet schlich in den dunklen Saal und hielt nach ihren Freunden
Ausschau. An Knien und FüÃen vorbei quetschte sie sich
durch die Reihe und gab sich Mühe, kein Popcorn und keine
Getränke umzustoÃen.
Als sie über Jay hinwegstieg und sich neben ihn setzte,
schaute er nicht auf.
Doch dann legte er ihr den Arm um die Schultern, und sie
war überrascht und erleichtert. Er war sauer auf sie, das hatte
sie ihm vorhin im Flur angesehen, und deshalb war die unerwartete
Berührung umso tröstlicher. So war er.
Er beugte sich zu ihr, seine Stimme kaum ein Flüstern an
ihrem Ohr. »Du kannst mir nicht ewig Sachen verheimlichen.
Irgendwann musst du mir sagen, was los ist.«
Violet blinzelte die Tränen weg und nickte, während er seine
warmen Lippen auf ihre legte. Er lehnte sich zurück und wandte
sich wieder dem Film zu.
Auf ihrer anderen Seite saÃen Chelsea und Mike und
knutschten.
12. Kapitel
Zögernd ging Violet auf die Polizeiwache zu. Sie war schon
so oft dort gewesen, vielleicht Hunderte Male. Kein Wunder,
denn ihr Onkel Stephen war der Polizeichef von Buckley.
Trotzdem lief sie mit schweren Schritten auf das Gebäude zu.
Sie ging durch den Haupteingang, bestimmt würde an einem
Sonntagnachmittag niemand da sein. Das hoffte sie jedenfalls.
Aber nein â es herrschte fast so viel Betrieb wie an einem
normalen Wochentag. Sie sah einige bekannte Gesichter und
nahm verschiedene Echos wahr â Zeichen, die Polizisten trugen.
Darunter der durchdringende Geschmack nach Löwenzahn,
an dem sie sofort ihren Onkel erkannte.
»Hallo, Onkel Stephen«, sagte Violet, als sie ihn entdeckte.
»Tante Kat hat mir gesagt, dass du hier bist. Ich hoffe, es ist
okay, dass ich vorbeischaue.«
»Na klar. Komm in mein Büro.« Er sagte es freundlich, aber
Violet hörte auch Sorge heraus.
Als er die Tür hinter sich zumachte, gewann die Sorge die
Oberhand. »Also, was ist los? Du kommst doch so ungern hierher.
« Er setzte sich an seinen Schreibtisch.
Violet wand sich. »So ungern nun auch wieder nicht â¦Â«
Er unterbrach sie. »Ach was. Du besuchst mich nicht gern
und das wissen wir beide. Also, weshalb bist du hier?«
Sie hätte es ihm gern gesagt, ihm alles erzählt, was passiert
war: von dem kleinen Jungen am Hafen, den Besuchen von Sara
Priest und Rafe. Deshalb war sie hergekommen. Sie brauchte
seinen Rat und seine Hilfe. Doch jetzt, da sie ihm gegenübersaÃ
und in seine Augen schaute, brachte sie es nicht über sich.
Er war der Polizeichef, ja, aber er war auch der Bruder ihres
Vaters. Und ihretwegen trug er jetzt ein Echo, auch wenn er
zu Recht getötet hatte.
Sie lächelte unsicher. »Ich wollte mal sehen, ob du nicht ein
paar von den Stickern hast, die ihr an die Kinder verteilt. Ich
möchte Jay ein bisschen foppen, weil er doch so auf dich steht.«
Ihr Onkel lachte schallend. »Vi, du bist schon fast so schlimm
wie deine Tante Kat. Hat sie dir Nachhilfe gegeben?« Doch er
langte schon in seine Schreibtischschublade, holte einen Stapel
Sticker heraus und schob sie ihr über den Tisch zu. »Wie soll
er mir gegenüber je locker werden, wenn du ihn immer damit
aufziehst?«
Diesmal war Violets Lächeln echt. »Lass ihm Zeit, Onkel
Stephen, das wird schon. Er ist dir eben
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