Ruf der verlorenen Seelen
dankbar.« Sie steckte
die Sticker in die Jackentasche und kam sich vor wie ein Feigling.
Sie erwähnte nicht, dass sie ihm genauso dankbar war wie
Jay, denn das wusste er längst. Sie stand für immer in seiner
Schuld.
Er schaute sie einen Moment prüfend an.
»Vielen Dank.« Sie zeigte auf ihre Tasche und überlegte, was
sie noch sagen könnte. »Dann lass ich dich mal wieder arbeiten.
«
Er begleitete sie hinaus und nahm sie auf dem Gehweg vor
der Polizeiwache in die Arme. Sie schüttelte sich, als sich der
bittere Geschmack in ihrem Mund ausbreitete.
Er gab ihr einen festen Kuss auf die Stirn. »Ich hab dich
lieb, Kleine. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich
für dich da.«
Violet schaute zu ihm auf. Natürlich ahnte er, dass sie nicht
nur wegen der Sticker gekommen war. Und sie fühlte sich mies,
weil sie sich ihm nicht anvertraut hatte.
»Danke, Onkel Stephen. Ich hab dich auch lieb.«
Als sie im Wagen saÃ, lieà sie erst den Motor an und holte
dann ihr Handy heraus. Sie rief die Liste der verpassten Anrufe
auf und wählte.
Es klingelte zweimal, bevor jemand abnahm und Violet
sprach wacklig, aber entschlossen. »Hier ist Violet Ambrose«,
sagte sie. »Ich glaube, wir müssen miteinander reden.«
Die ersten Sterne brachen durch den schwarzen Himmel und
Violet stand an ihrem kleinen Friedhof. Der Wald war zu einer
Ansammlung von Schatten geworden, eine Collage in Grautönen.
Sie schauderte, aber nicht vor Kälte. Ihre Jacke war warm
genug, doch sie wurde von Zweifeln geplagt.
Sie betrachtete die selbstgemachten Grabsteine auf der
Erde. Warum wurde sie von einigen Toten gerufen â wie von
den Mädchen letztes Jahr und von dem Jungen am Hafen â
während andere sie in Ruhe lieÃen? Warum wollten manche so dringend gefunden werden, dass es ihr physische Schmerzen
bereitete?
Violet hatte den Verdacht, dass es etwas mit der Brutalität
ihres Todes zu tun hatte. Mit unvollendetem Leben. Und
Menschen schienen eine stärkere Wirkung auf sie zu haben als
Tiere. Aber sicher war sie sich nicht.
Sie schlang die Arme um ihren Körper und lauschte auf das
Rauschen im Hintergrund, das von den toten Tieren ausging,
das friedliche Geräusch, zu dem die Echos verschmolzen. Reglos
stand sie da und lieà sich davon einhüllen.
Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie heute nicht den Mut
aufgebracht hatte, mit ihrem Onkel zu reden. Hätte sie ihm nur
alles gesagt; sie wollte nicht so viele Geheimnisse mit sich herumtragen.
Aber noch schrecklicher wäre es, wenn ihre Familie
und Jay sich solche Sorgen um sie machen müssten wie letztes
Jahr, als der Mörder hinter ihr her gewesen war. Solchen Kummer
wollte sie ihnen nicht noch einmal bereiten.
Nein, beschloss sie. Sie wollte es allein versuchen, jedenfalls
solange es ging.
Die Leiche des Jungen war gefunden worden, mehr konnte
sie nicht für ihn tun.
Die Sache mit der toten Katze war bedrohlich, aber bis jetzt
hatte sie keine weitere Botschaft erhalten. Vielleicht war es
bloà ein geschmackloser Streich gewesen.
Und Sara Priest war nur eine Frau vom FBI, die mit Violet
reden wollte. Reden. Das müsste sie hinkriegen, ohne dass ihre
Eltern ihr das Händchen halten mussten, oder?
Warum hatte sie dann so ein schlechtes Gewissen, wenn sie
es ihnen nicht erzählte? Warum fühlten sich ihre Geheimnisse
an wie Lügen?
Und dann die Sache mit Rafe. Jay war garantiert immer noch
sauer, weil sie ihm gestern nicht erklärt hatte, woher sie ihn
kannte. Oder gab es einen anderen Grund, warum er sie heute
von der Arbeit nicht anrief? Das machte er sonst immer.
Sie blies auf ihre kalten Hände und wandte sich von ihrem
Friedhof ab, ihre Schritte knirschten auf dem eisverkrusteten
Rasen.
Sie hoffte, dass der morgige Tag ihr ein paar Antworten auf
ihre Fragen bringen würde.
13. Kapitel
Als Violet den Aufzug im Parkhaus betrat, hatte sie einen
Knoten im Bauch. Hier konnte man wirklich Albträume bekommen.
Jedenfalls wenn man die Echos der Menschen spürte,
die schon mal jemanden getötet hatten.
Normalerweise mied Violet solche Orte â Krankenhäuser,
Leichenschauhäuser und Polizeiwachen. Sogar Geschäfte für
Jagdzubehör.
Und AuÃenstellen des FBI.
Aber jetzt hatte sie keine Wahl. Es sah nicht so aus, als
würde Sara Priest die Sache auf sich beruhen lassen.
Im Aufzug wurde ihr noch mulmiger, sie kämpfte gegen
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