Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
man nicht, wenn man ihn nicht kannte. Das Zentrum der Insel war eine mittelalterlich anmutende Burg, die gar nicht hierher passte. Luciens Zuhause. Lemain brachte mich zwar auf die Insel, hielt aber gehörigen Abstand zur Burg.
„Du lässt mich doch jetzt nicht allein?“
„Ich habe gesagt, dass ich dich hierher bringe. Aber ich riskiere für dich nicht meine Seele, indem ich ihm gegenübertrete. Bedaure, so weit reichen meine Schuldgefühle nun auch wieder nicht.“
Er verschwand, ehe ich einen Einwand erheben konnte. Die Burg lag düster einige hundert Meter über mir. Langsam begann ich den unwegsamen Pfad hinaufzuklettern. Mit jedem Schritt schlug mein Herz schneller. Als ich vor den Burgtoren stand, glaubte ich, es müsse zerspringen. Ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, kam auf mich zu.
„Wer sind Sie, und was wünschen Sie?“ Er fragte nicht, wie ich überhaupt auf das Eiland gekommen war. Vielleicht hatte er mein Ankommen beobachtet.
„Mein Name ist Melissa. Ein Freund, Lemain, brachte mich hierher. Ich möchte zu Lucien.“
Der Mann zögerte, überlegte wohl, ob sein Herr damit einverstanden war oder nicht. Aber da ertönte schon eine Stimme aus dem Inneren des Gemäuers. Ruhig, tief und warm.
„Lass sie ein, David! Und bereite ihr ein Lager. Ich werde mich morgen Nacht um sie kümmern.“
David brachte mich in einem warmen, geräumigen Zimmer unter, ließ mich dann allein und kam kurze Zeit später mit einem Tablett voller Essen und einer Karaffe Wasser sowie einem Glas Wein zurück.
„Wenn Sie noch etwas wünschen, dann läuten Sie bitte. Das Badezimmer befindet sich hinter dem Vorhang dort drüben.“
Er deutete auf einen dunkelblauen Samtvorhang. Ich folgte seiner Geste. Als ich mich wieder zu ihm umdrehte, war er verschwunden.
Das Essen war vorzüglich, der Wein ebenfalls. Müde und immer noch geschwächt, legte ich mich wenig später schlafen. Wenn ich diesem Lucien heute Nacht ohnehin nicht mehr begegnen würde, machte es auch keinen Sinn noch lange wach zubleiben.
Am nächsten Morgen wartete bereits ein Mädchen vor meiner Tür. Sicherlich, damit ich nicht dem Herrn des Hauses unerlaubt nachspionieren konnte. Gillian, so war ihr Name, begleitete mich den ganzen Tag über. Ging mit mir auf der Insel spazieren, leistete mir beim Essen Gesellschaft, spielte mehrere Partien Dame mit mir. Die Insel war größer, als sie von oben wirkte. Die Vegetation reich und vielfältig. Bunte Blumen in allen Farben verströmten berauschende Düfte. Tausende von Schmetterlingen tummelten sich auf ihnen, ebenso wie bunt schillernde Kolibris. Ich entdeckte eine ganze Kolonie von Gelbhaubenkakadus und eine kleinere Gruppe bunter Aras, die krächzend ihren Unmut bekundeten, dass wir ihnen zu nahe kamen. Weniger bezaubert war ich von den Spinnen und Schlangen. Beide waren zu groß, als dass ich sie hätte ignorieren können. Gillian beruhigte mich, dass es sich durchweg um ungiftige Arten handele, aber das machte mir die Biester auch nicht sympathischer. Der ganze Stolz des Herrn dieser Insel waren die fünf schwarzen Panther, die er aus dem Zoo von Miami gekauft und hierher hatte bringen lassen. Ein Pärchen und seinedrei Kinder, zwei Weibchen und ein Männchen. Sie beobachteten uns wachsam aus schimmernden grünen Augen, als wir einige Meter von ihnen entfernt stehen blieben. Doch erfreulicherweise machten sie keinerlei Anstalten, auf uns los zu gehen.
„Sie sind zahm, soweit man das von ihnen erwarten kann. Dreimal am Tag werden sie mit frischem Fleisch gefüttert. Lucien ist aber der einzige, der sie anfassen kann. Ihn akzeptieren sie als ein Mitglied ihrer Art. Wir anderen dürfen nur bis zu einem gewissen Punkt an sie heran. Wenn wir näherkommen, reagieren sie äußerst empfindlich.“
Ich hinterfragte das nicht weiter und wollte auch nicht ausprobieren, wie nah sie mich heran ließen.
Als es dunkel wurde, brachte Gillian mich in einen riesigen Raum der Burg, einem Thronsaal gleich. Sie ließ mich auf einem Stuhl beim Kamin Platz nehmen und schürte das Feuer. Dann ließ sie mich allein.
Minuten verstrichen, mir wurde immer unbehaglicher zumute. Die Burg war totenstill. Ich stand auf und begann durch die Dunkelheit zu wandern. Unruhig und angespannt. Der Schein des Kaminfeuers verlor sich in der Finsternis des großen Raumes. Man konnte nur vage Umrisse erkennen. Mein Herz begann zu rasen, kalter Schweiß bildete sich zwischen meinen Schulterblättern, und das Atmen fiel mir schwer.
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