Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
tödlich.
„Franklin hat mir gesagt, dass sie sterben muss“, begann ich leise. „Ich kenne sie und ihre Mutter aus London. Die beiden sind erst vor kurzem in dieses Mutterhaus umgezogen. Mary hatte gehofft, dass man Kim im Tulane noch retten könnte.“
Er musterte mich. „Bedeutet sie dir etwas?“
„Alle in meiner Familie bedeuten mir etwas, Lucien. Die Ashera wird immer meine Familie sein. Egal, wie viel Vampir in mir ist.“
Er nickte stumm. Dann war der Platz neben mir leer. Erschrocken blickte ich mich um. Wo war er hin? Ein leiser Aufschrei aus dem Haus gab mir die Antwort. Mein Blick fiel durch das Fenster. Mary hatte sich an die Wand gedrückt, mit schreckgeweiteten Augen.
Lucien saß auf Kims Bett. Den Kopf tief über das kleine Wesen gebeugt, das in dieser Nacht vielleicht seinen letzten Atemzug tun würde. Doch auch wenn Kims Tod schon feststand, ich konnte nicht daneben stehen und zusehen, wie Lucien das noch beschleunigte indem er das Kind vor den Augen der Mutter tötete. Auch mein Auftauchen erschreckte Mary. Doch sie erkannte mich und blickte mich flehentlich an.
Bisher hatte ich jeden Menschen in Luciens Nähe entweder sterben oder von ihm abhängig gesehen. Ich konnte mir bei aller Liebe und Bewunderung, die ich für ihn empfand, nicht vorstellen, dass er auch anders mit Menschen umgehen konnte.
„Nicht“, bat ich daher, doch er gebot mir, zu schweigen. Kim fieberte. Er legte seine Hand auf ihre Stirn und flüsterte melodische Worte, die ich nicht verstand. Seine Finger mit den messerscharfen Nägeln, die menschliche Haut zerschneiden konnten, wie ein heißes Messer ein Stück Butter, streichelten zärtlich das Gesicht des kleinen Mädchens, ohne ihm auch nur einen Kratzer zuzufügen. Er schlug das Laken zurück, befühlte und betastete den von Krankheit gepeinigten Körper. Dann legte er schließlich seine Hände auf Kims Brustkorb, schloss die Augen und murmelte Beschwörungsformeln in einer längst vergessenen Sprache.
Ich wurde Zeuge, wie das Kind binnen weniger Minuten in einen tiefen Schlaf fiel, in dem das Fieber sank und die Krankheit verschwand. Schließlich deckte Lucien es wieder sorgfältig zu, neigte seinen Kopf in Richtung der Mutter, wie zu einem Gruß, ehe er zu mir herüber kam.
„Wenn sie aufwacht, wird sie wieder völlig gesund sein.“
Ich war sprachlos. Lucien ein Heiler? Und das ganz ohne den kleinen Trunk?
„Manchmal,
thalabi
“, sagte er und streichelte mein Gesicht, „gibt es Dinge, die du über mich noch nicht weißt. Das solltest du besser nie vergessen.“
Es schwang eine leichte Drohung in seiner Stimme mit, aber nicht so bedrohlich, dass ich mir Sorgen gemacht hätte.
„Danke“, sagte ich.
„Schon gut. Schließlich ist es ja ‚deine Familie’, wie du immer wieder betonst. Also bin ich wohl notgedrungen auch über ein paar Ecken mit ihnen verwandt.“
Er sagte das halb belustigt. Aber ich wusste, wie er es meinte. Wieder einmal fühlte ich mich in meinem Glauben bestärkt, dass er trotz all seiner Gleichgültigkeit gegenüber Sterblichen ein weiches Herz hatte.
Zurück über den Dächern der Stadt gestand er: „Kinder berühren mich tief. Ich mag sie nicht leiden sehen. Ich weiß, du hältst mich für gleichgültig, vielleicht sogar grausam. Aber es ist ein Unterschied, ob ich auf der Jagd bin oder nicht. Wer ein Kind quält oder leiden lässt, ist in meinen Augen ein wahres Monster.“ Er schwieg einen Moment, schien zu überlegen, wie er in Worte fassen sollte, was er mir damit eigentlich sagen wollte. „Siehst du, das ist der Grund, warum ich Pascal – verzeih: Dracon – damals zu mir nahm.“
„Pascal?“
„Unter diesem Namen wurde er geboren. Und er behielt ihn auch, solange er bei mir lebte. Lass mich dir ein wenig von ihm erzählen, Mel. Vielleicht verstehst du ihn dann besser und trachtest nicht, wie dein Vater, nach seinem Leben.“
Ich glaubte nicht, dass Franklin Luciens Sohn unbedingt tot sehen wollte. Ihm war es wichtig, dass wir ihn aufhielten, ihm das Serum wieder abnahmen. Aber ihn töten? Das war nicht Franklins Art mit den Wesen der Gegenwelt umzugehen.
„Pascal kam in einem Bordell in London zur Welt. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Seine Mutter war eine schwarze Hure, die man als Sklavin aus Afrika verschleppt und auf einem Markt in Portugal verkauft hatte. Wer weiß, wie viele grausame Stationen sie durchlaufen hat, ehe sie in diesem Freudenhaus ein halbwegs erträgliches Zuhause fand. Sein Vater war
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