Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
ein Kapitän, den er niemals gesehen hat. Als seine Mutter starb, hatte er nur zwei Möglichkeiten: die Straße, oder weiterhin im Bordell zu bleiben. Er war ihr Laufbursche, als ich ihn das erste Mal sah. Machte Besorgungen, kümmerte sich um die Bedürfnisse der Mädchen, half in der Küche. Doch wenn der Preis stimmt, verlieren Menschen schnell ihre Skrupel. Ein Seemann, der mehr auf kleine Jungs als auf Frauen stand, bot genug für ihn. Also zwang man ihn, mit aufs Zimmer zu gehen. Dieser widerliche Fleischberg von einem Mann hätte den Knaben vergewaltigt und vielleicht sogar dabei umgebracht, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre. Ich kaufte ihn frei. Ein verängstigtes, vierzehnjähriges Kind, das niemandem vertraute. Er wurde mein Sohn, ich offenbarte ihm mein Geheimnis und als er erwachsen war, wurde er mein Geliebter und Gefährte. Ich hätte ihn nie zu einem der unseren gemacht, wenn er mich nicht inständig darum gebeten hätte. Seine Seele war zu sanft für den Dämon. Ich wusste, er würde an der Wandlung zerbrechen. Doch ich liebte ihn zu sehr, um ihm und seinem sehnsuchtsvollen Blick widerstehen zu können. Darum gab ich seinem Betteln schließlich nach. Was daraus geworden ist, weißt du.“
„Dann ist er gar nicht von Grund auf böse?“
Er schüttelte den Kopf, wodurch sein seidiges Haar in Bewegung kam, wie Wellen in einem dunklen See. „Ich weiß um die geschundene Seele, die tief im Inneren des reißenden Dämons wohnt. Ein Teil von Pascal ist noch immer da. Ich denke sogar, dass er dich aufrichtig liebt, und dass du dadurch vielleicht einen Zugang zu ihm finden kannst. Er vertraut dir. Sonst würde er dich nicht teilhaben lassen an dem, was er vorhat.“
„Ich habe davon geträumt“, gestand ich. „Von dem Wasser aus Blut und den weinenden Engeln.“
„Das wundert mich nicht“, erwiderte er zu meiner Überraschung. „
Alwagh al dakhr
– das zweite Gesicht. Du hattest es schon immer. Wenn auch nur schwach und nicht gezielt einsetzbar. Aber das Ewige Blut nährt es nun. Mach dir das zunutze, wenn du kannst.“
Traurig wendete ich mich ab. Seine Worte waren wie ein eisiger Dolch, der in meine Seele stach. Ich hätte diese Fähigkeiten besser unter Kontrolle haben müssen. Gerade weil sie ihren Ursprung in meinem Hexenblut hatten. Doch stattdessen beherrschte ich diese Gabe weniger als alle anderen. Weniger als jene, die mir das Dunkle Blut gebracht und Lucien mich zu nutzen gelehrt hatte. Tränen der Enttäuschung über mein Versagen, meine Unfähigkeit, stiegen in meiner Kehle auf. „Ich fürchte, das kann ich nicht. Es lässt sich nicht steuern. Es kommt und geht wie es will, ohne mein Zutun.“
„Du wirst es lernen mit der Zeit. Wie du schon so vieles gelernt hast. Hab Geduld. Du wirst alles lernen.“
In deinen Schwingen sanft geborgen
Armand hatte nicht damit gerechnet, dass ich zu ihm kommen würde, nachdem ich bei Mary und Kim vorbeigeschaut hatte. Ich wusste, wie sehr ihn der Gedanke schmerzte, mich an Luciens Seite zu wissen. Dennoch hatte er kein Wort gesagt. Auf seinem Gesicht zeigte sich Überraschung, als ich einige Stunden später wieder zu ihm ins Schlafzimmer kam. Franklin lag schlafend im Sessel, ein Blatt mit den Engelreimen in seinem Schoß, die Brille schief auf der Nase. Er schnarchte leise. Ich konnte ein Lachen kaum unterdrücken. Armand fiel tonlos mit ein. Dann legte er einen Finger an seine Lippen und ich nickte. Er deutete nach oben, zum Dachboden. Auf Zehenspitzen verließen wir seine Wohnung, flüchteten in die Einsamkeit des staubigen Speichers, für einige kostbare Augenblicke ungestörter Zweisamkeit.
Eine alte Matratze genügte als Lager. Ich kuschelte mich an seine Brust und schloss selig die Augen.
„Wo ist Lucien?“, fragte er.
„Noch auf der Jagd, denke ich.“
Er hob mein Gesicht mit dem Zeigefinger an. „Und du?“
„Ich bin hier. Das siehst du doch.“
Nur sein vibrierender Brustkorb und ein sanftes Schimmern seiner Fänge verrieten, dass er lachte.
„Oui, das sehe ich. War er damit einverstanden?“
„Ich bin nicht sein Eigentum. Wer weiß, wann wir das nächste Mal Zeit für uns finden. Morgen Nacht beginnt die Jagd. Ich bin lieber bei dir als bei ihm. Und ich denke, das weiß er auch.“
Armand gab einen unbestimmten Laut von sich, fragte aber nicht weiter nach. Ich legte mein Ohr auf sein Herz, lauschte dem langsamen, gleichmäßigen Klang.
„Bist du böse auf mich?“, fragte ich.
„Pourquoi? Warum sollte
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