Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
brach. Ich schrie auf, doch anstatt mich loszulassen, zerrte er mich unerbittlich durch die Gänge der Burg. In rasender Geschwindigkeit bis hinauf auf die höchste Spitze der Burgmauern. Dort schleuderte er mich gegen die Steine, so dass ich dumpf aufprallte und benommen liegen blieb. „Ich gebe dir eine kleine Kostprobe der Macht, die wir haben, liebste Melissa“, sagte er düster. „Damit du nicht länger in dem Irrtum leben musst, es gäbe irgendeine Einschränkung für unseresgleichen. Du scheinst nicht die geringste Ahnung zu haben, was wir wirklich sind.“
Er breitete seine Arme aus. Sein weiter Umhang bauschte sich wie die Schwingen eines riesigen Raben. Blitze zuckten in seinen Augen und der Schrei, der sich seiner Kehle entwand, war grauenerregend.
Binnen Sekunden setzte aus der völligen Windstille eine Sturmbö ein. Er rief die Geister und Dämonen des Sturms, der dunklen Himmelsnacht, der schwarzen Sonne. Und selbst für meine Ohren war seine Stimme nichts anderes als das Dröhnen des Todes. Wolken flatterten wie Tausende von Fledermäusen herbei, verbargen den Mond. Schon zuckte der erste Blitz, Donner brachte die Erde zum Beben. Hagel und Regen peitschten mein Gesicht. Der Sturm zerrte so stark an mir, dass ich Mühe hatte zu atmen.
Lucien war der Gestalt gewordene Todesengel.
Blitze schlugen links und rechts von ihm in den Fels der Burg, hinterließen brennende Narben im Gestein. Sein Umhang umwehte ihn, als wolle er sich jeden Augenblick in die Lüfte erheben. Die Arme emporgereckt schrie er den Dämonen der dunklen Naturgewalten seine Befehle entgegen. Und sie gehorchten. Jedes Mal, wenn sein Antlitz im Gewittersturm erhellt wurde, erschreckte mich sein Anblick mehr. Eine Finsternis und Bosheit sprach aus diesem schönen Gesicht, diesen dämonischen Augen, die selbst den Teufel zu Stein hätte erstarren lassen. Er beherrschte, was unbeherrschbar war. Unterwarf sich die Kräfte der Natur, als wären es Spielzeuge, kleine Zinnsoldaten, die er nach seiner Laune marschieren ließ. Doch das hier war kein Spiel. Er ließ den Sturm singen, ließ den Regen tanzen, ließ die Blitze den Himmel in Stücke teilen. Kleine Windhosen sprangen von einer Burgzinne zur nächsten, drehten sich in einem Reigen, dessen Melodie einzig und allein mein Lord vorgab. Die Blitze erloschen nicht sofort, wenn sie den Boden berührten, sondern wiegten sich von einer Seite zur anderen. Rote, gelbe und blaue Lichtfunken stoben von ihnen in alle Richtungen. Der Spuk dauerte fast eine Stunde.
Dann senkten sich Luciens Arme plötzlich, und seine Stimme wurde zu einem beschwörenden Raunen. Sein Blick starr, seine Atemzüge tief und gesammelt.
„Halt ein!“, befahl er nun. „Schweig still! Halt ein!“
Und auch diesmal gehorchten ihm die Naturgewalten. In wenigen Augenblicken ebbte der Regen ab. Blitz und Donner schwiegen. Die Wolken flüchteten wie aufgeregte Vögel, und ganz zuletzt hielt auch der Sturm wieder den Atem an.
„Denkst du immer noch, es gäbe irgendeine Einschränkung für unsere Macht?“, wollte er wissen. „Denkst du immer noch, ich würde nur so tun, als wäre ich allmächtig? Glaubst du immer noch, wir müssten uns rechtfertigen, müssten ein Gewissen haben, oder Rücksicht auf irgendetwas oder irgendjemand nehmen?“
Ich schüttelte stumm und verängstigt den Kopf. Mein ganzer Körper bebte unkontrolliert, so sehr hatte er mich eingeschüchtert.
„Du hast jetzt gesehen, wie mächtig wir sind?“, höhnte er. „Wenn wir uns vereinen, können wir die Welt untergehen lassen. Also zweifle nie wieder an deinem Status gegenüber diesen erbärmlichen sterblichen Kreaturen. Du bist ihren Göttern gleichgestellt.“
Das Feuer in seinen Augen verbrannte mich, ließ nicht länger Widerspruch zu. Wenn ich mich jetzt nicht von ihm lossagte, wäre ich für immer verloren, das wusste ich. Aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich nickte nur stumm. Lucien hatte mir ein für allemal die Augen geöffnet. Darüber, was wir waren. Und vor allem darüber, wie gefährlich es war, sich seiner Macht und seinem Willen zu widersetzen.
*
Die Maschine landete um kurz nach vier auf dem Flughafen von New Orleans. Mit dem Taxi fuhr Franklin zum Mutterhaus. Susan erwartete ihn bereits.
„Armand ist noch immer im French Quarter. Gestern Abend hat er sich mit einem seiner Geschäftsführer getroffen. Er wirkte angespannt.“
„Ich hatte dich doch gebeten, niemanden darauf anzusetzen.“
Susan winkte ab. „Keine
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