Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
fiel. Der Turm, der Eremit, der König der Schwerter. In einem anderen Leben, so schien es mir, hatte das Tarot schon einmal mein Schicksal vorausgesagt. Und heute verstand ich jede einzelne Karte von damals und ihre Bedeutung.
Meinen Lord überlief ein unangenehmer kalter Schauer, als er mich mit leerem Blick dort sah. Ich konnte es fühlen, die Sorge, seine Macht über mich einzubüßen, wenn ich mich selbst aufgab. Er fragte sich, ob er zu weit gegangen war, meinem Gemüt zu schnell zu viel zugemutet hatte. Ein Gefühl der Genugtuung durchströmte mich, während ich diese Zweifel wahrnahm, die er füreinen Moment vergaß, vor mir zu verbergen. Die Karten wirbelten wie tote Blätter im Herbstwind um mich herum zu Boden. Dann fiel der Knochenmann.
„Der Tod“, flüsterte ich sehnsuchtsvoll.
Lucien packte mein Handgelenk, verdrehte es so schmerzhaft, dass für einen Augenblick schwarze Punkte vor meinen Augen tanzten.
„Lass das, Mel“, fauchte er mich an. „Es ist nicht dein Schicksal. Nicht dein Tod.“
Einen Moment war ich überrascht, dann wütend und schließlich schwanden wieder alle Gefühle aus meinen Zügen.
„Vielleicht nicht. Vielleicht ist es ja deiner.“
Vor Zorn wollte er mich schlagen. Das sah ich in seinen Augen. Aber ich hatte keine Angst, sondern hielt seinem Blick stand. Kein Schmerzenslaut kam über meine Lippen. Schließlich ließ er mein Handgelenk mit einer Bewegung los, als hätte er sich verbrannt. Dunkel malte sich Blut unter meiner weißen Haut ab, fast schwarz. Das Gelenk war mehrfach gebrochen. Doch eben konnte man sehen, wie die vampirische Essenz ihr Werk der Heilung begann. Es pulsierte unter der Haut, und binnen Minuten saß jeder Knochensplitter wieder genau da, wo er hingehörte und der schwarze Schatten war verschwunden. Die Haut wieder makellos bleich, wie poliertes Elfenbein.
„Du sehnst dich geradezu danach, dass ich dich töte, nicht wahr?“, fuhr er mich an. „Doch das wird vergehen. Und dann wirst du mir dankbar sein, dass ich dir geholfen habe, deine verdammte menschliche Seele zu überwinden.
Lelgachem
! Zur Hölle damit. Ich wusste, du würdest deine neue Natur nicht ohne Wenn und Aber akzeptieren. Deshalb habe ich dich gerufen. Weil Armand dir jetzt nicht helfen kann. Er könnte dich nie an die Unsterblichkeit binden, so wie ich es kann. Du würdest ihm entgleiten, wie ein schlüpfriger Aal. Dein Leben würde durch seine Finger rinnen, wie Sand. Irgendwann würdest du dich von der Todessehnsucht übermannen lassen und sterben – auf die erbärmlichste Art und Weise, wie unseresgleichen sterben kann. Wenn ich dir nicht die Kraft gebe, diese Zeit durchzustehen, bis deine Seele endlich schweigt und sich dem Dämon unterwirft.“
„Sich dir unterwirft, meinst du wohl.“
Mein Zorn loderte ihm entgegen, angefeuert von dem Schmerz der frisch verheilten Knochen, der noch in meinem Arm schwelte. Für einige Augenblicke stand er drohend über mir. Fixierte mich mit erbarmungslosem Blick. Doch dann beherrschte er wieder seine Gefühle und sprach milder, aber warnend zu mir, weil er wusste, dass dies meine Wut kühlen und meine Ängste nähren würde.
„
Thalabi, thalabi
, was soll ich nur mit dir machen? Du willst deine Lektionen einfach nicht lernen. Blamierst mich sogar vor meinen Gästen. Und bietest mir die Stirn, wann immer du kannst.
Teflah sagherah sayda
. Ungezogenes kleines Mädchen.“
Ich fürchtete ihn, mit dieser trügerischen Ruhe, die dunkelblauen Augen schwarz vor Zorn. Aber ich wollte ihm diese Angst nicht zeigen. Trotzig reckte ich das Kinn vor.
„Und was willst du dagegen tun, mein großer Lord?“
Er atmete tief durch. Dann schüttelte er den Kopf und ging zum Tisch, um sich ein Glas Wein einzuschenken. Ich roch das süße Aroma von weiblichem Blut. Die Tatsache, dass ich heute nicht gejagt hatte, wurde mir unangenehm bewusst.
„Ich werde gar nichts tun,
thalabi
. Was würde es nutzen, dich zu schlagen?“ Er blickte auf meine Hand. „Oder dir weitere Knochen zu brechen. Natürlich könnte ich dich fortschicken und von weitem zusehen, wie du an deiner vampirischen Natur langsam und elend zugrunde gehst. Das habe ich sogar in Erwägung gezogen,
saghere
. Aber nein, auch das werde ich nicht tun. Ich bin ein geduldiger Lehrer. Der dir deine Fehler vergibt.“
Seine Worte waren schlimmer als jede Schelte. Die Ruhe mit der er sprach, unterstrich ihren Wahrheitsgehalt. Machte mir wieder bewusst, dass ich ihn brauchte, um die
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