Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
mir tat. In dem kleinen Raum vor der Stahltür zum Keller hörte das Geflatter schließlich auf. Ich wusste, dass dort immer eine Kerze auf dem kleinen Holztisch stand und nickte in deren Richtung, konzentrierte mich auf das Bild einer Flamme, und Sekunden später erhellte warmes Kerzenlicht die Kammer. Auf dem Tisch direkt neben der Kerze saß die schwarze Krähe mit der blauen Feder im Flügel. Camilles Seelentier. Unter ihren Füßen lag ein hellblauer Umschlag auf dem in Camilles Schrift mein Name stand. Ich streckte die Hand danach aus. Die Krähe erhob sich krächzend und flatterte durch den Gang wieder Richtung Schlafstatt davon. Einen Herzschlag später war wieder alles still. Ich drehte den Brief in meiner Hand. Er war mit Wachs und Camilles Siegel verschlossen, ließ sich aber leicht öffnen. Warum ein Brief? Und warum brachte ihn ihre Krähe? Ich war doch bei ihr gewesen. Sie hätte mir sagen können, was sie noch auf dem Herzen hatte. Oder zumindest hätte sie mir den Brief selbst geben können. Die Antwort würde ich hoffentlich in diesen Zeilen finden.
Meine liebe Melissa
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wenn du diesen Brief erhältst, werde ich nicht mehr bei dir sein. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dies bedauere. Doch das Schicksal will es mir nicht gönnen, dir in einer schweren Zeit zur Seite stehen zu können. Und diese schwere Zeit wird kommen. Sehr bald schon
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Zunächst verzeih, dass dieser Brief dich erst jetzt erreicht, wo sicher schon einige Tage vergangen sind, seit meinem Ableben. Ich hatte überlegt, ihn dir persönlich zu geben, oder dir einfach zu erzählen, welche Visionen ich in den letzten Tagen hatte. Doch ich fürchtete, dann nicht mehr die Kraft zu haben, dir meine Bitte um ein gnädiges Sterben vorzutragen
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Noch weniger konnte ich den Brief bei meinen persönlichen Habseligkeiten lassen, damit man ihn dort finden und an dich weitergeben würde. Ich kenne die Ashera lange genug. Ich weiß, dass das Magister des Ordens die persönlichen Sachen der verstorbenen Mitglieder kontrolliert und dann darüber entscheidet, was weitergegeben und was konfisziert wird. Ich musste befürchten, dass du den Brief nie erhalten hättest. Daher zog ich es vor, ihn zu verbergen, damit meine Krähe ihn dir bringt, wenn ich nicht mehr da bin
.
Stell jetzt bitte keine Fragen. Dir selbst nicht und vor allem nicht Franklin. Er wird dir nichts über das Magister sagen können, weil es den Ratsmitgliedern der Mutterhäuser bei Todesstrafe verboten ist, das Magister gegenüber anderen zu erwähnen. Mich braucht das ja nun nicht mehr zu kümmern. Nur wer dem Rat angehört, erfährt überhaupt, dass es das Magister gibt. Diese Institution innerhalb des Ordens kümmert sich um ‚Probleme’ und kontrolliert alle Vorgänge des weltweiten Ashera-Netzwerkes. Sei gewarnt, das Magister hat ein Auge auf dich. Dein Vater wird versuchen, dich zu schützen, doch er kann dich nicht ewig decken. Dein Leben mag aufgrund deiner vampirischen Natur nicht bedroht sein. Doch die Möglichkeiten des Magisters sind nicht abzusehen. Bitte sei vorsichtig
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Dies ist die eine Gefahr, die ich für dich sehe. Doch da gibt es noch weitere, die nicht minder bedrohlich sind. Die eine liegt sehr nah. Du wirst dich einem altem Feind gegenübersehen, der dich nicht vergessen hat. Sei auf der Hut
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Die zweite Gefahr, die ich für dich sehe liegt noch in weiter Ferne. Doch diese Gefahr ist dein Schicksal, dem du nicht entrinnen kannst. Und sie wird dein Leben völlig verändern. Ich sorge mich um dich und deinen Seelenfrieden, mein Liebes
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Wenn ich nur mehr Mut besessen und mich der Wandlung gestellt hätte. Ich weiß, du wirst es mir angeboten haben. Doch der Gedanke an ein Leben als Bluttrinker ist mir unerträglich. So lasse ich dich allein mit all den schweren Prüfungen und nichts als einer vagen Warnung. Ich bete, dass du all das, was dich erwartet, überstehen magst. Im Herzen bin ich bei dir. Meine Krähe wird dich begleiten, solange es ihr noch möglich ist
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In Liebe
Deine Großtante Camille
Ich war erschüttert. Visionen von Gefahren? Sorge um das Magister? Das Magister! Dieses Wort war in ihren Erinnerungen gewesen, doch ich hatte damit nichts anfangen können. Ich dachte an Ben. Meinen ‚großen Bruder’ in der Ashera, der so plötzlich und spurlos verschwunden war, als er sich auf meine Seite und gegen meinen Vater gestellt hatte. Ein eisiger Klumpen bildete sich in meiner Magengegend. Hatte das Magister ihn beseitigt? Und hatte
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