Ruf des Blutes 5 - Erbin der Nacht (German Edition)
schon gesehen. Träge kramte meine Erinnerung etwas hervor. Ein Buch mit einem Siegel aus Elektrum auf dem Einband. Die Sage von Atlantis aus der Bibliothek in Gorlem Manor. Die Plätze unter uns waren von Menschen bevölkert. Manche hielten Schriftrollen in den Händen, andere unterhielten sich und tranken Wein aus goldenen und silbernen Bechern. Ich sah niemanden streiten, noch jemandem etwas Böses tun.
Im Schatten üppiger Bäume saß ein Mann auf einem Thron, zu seinen Füßen zwei liebreizende Frauen – die eine jung, die andere schon reifer. Der Mann – seinem Aussehen und den Symbolen seines Amtes nach zu urteilen ein König – blickte lächelnd auf sie hinab. Die Jüngere, wohl die Prinzessin, erhob sich nach einer Weile und ging fort. Ich sah sie wenig später in den Armen eines schönen Mannes von animalischer Ausstrahlung, dem sie völlig ergeben schien. Ich spürte ihn in meinem Leib als wäre ich sie, während er sie sich zu eigen machte. Oder war es Tizian, den ich fühlte? Ich zitterte beim Anblick dieses Unterweltgottes, weil er Leben und Zerstörung gleichermaßen in sich barg. Der bald gewölbte Leib der jungen Frau verlieh dem Leben Bestätigung, aber die Ahnung von Gewalt und Tod blieb. Düstere Wolken zogen wenig später über den Himmel und der Glanz der Stadt erlosch. Das Gold verlor seine Kostbarkeit, das Weiß seine Reinheit. Eine Alte auf einen krummen Stock gestützt murmelte seltsame Worte und warf Kräuter in ein Feuer, die den Geruch von Verderbnis verbreiteten. Zwei kleine Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, klammerten sich aneinander und versteckten sich hinter dem Unterweltgott, der mit grimmiger Miene auf den König einredete.
Wir zogen uns zurück und ich hatte das Gefühl, mit Tizian noch enger verbunden zu sein als zuvor. In meinem Körper tanzten blaue Flammen, die mich elektrisierten. Aber noch immer richtete er meine Aufmerksamkeit auf das Geschehen unter uns. Die Erde geriet abermals in Wallung. Gischt peitschte auf. Das Wasser türmte sich meterhoch auf und griff mit seinen gewaltigen Fingern nach der Stadt aus Gold und Marmor. Nicht nur eine Stadt, ein ganzer Kontinent. Tatsächlich Atlantis. Die Tore zur Unterwelt schlossen sich, zogen sich von dem Volk der Atlantiden zurück und überließen sie ihrem Schicksal. Ich sah die Königstochter in den Armen ihres Geliebten weinen, während die Flut alles verschlang. Jeden Mann, jede Frau, jedes Kind. Die kunstvollen Gebäude zerfielen, die kostbaren Schriften lösten sich im Wasser auf. All die Schätze und das Wissen gingen verloren. Atlantis versank und hoch über dem schwindenden Reich sah ich Tizian und Kaliste. Keine Kinder mehr, sondern erwachsen, wie sie es heute waren. Sein Gesicht gezeichnet von Bluttränen, während sie ein eisiges Lächeln auf den Lippen trug.
Unruhig lief Kaliste in ihrem Exil auf und ab. Es gab wenig Dinge, die sie so sehr hasste wie Untätigkeit. Aber nachdem diese Dämonenjäger jetzt die Reihen des Paranormalen Untergrundes aufmischten, war ihr das Risiko zu groß, sich nach draußen zu begeben, zumal diese Welt sie mehr und mehr anekelte. Sie war zu laut, zu oberflächlich, einfach zu modern. Schal, kalt und tot – sie ahnte es nur noch nicht oder es war ihr egal.
Aber sie sah all das, weil sie die Welt seit über fünftausend Jahren begleitete. Ihr Plan war eine Gnade für dieses armselige Menschenvolk, wenn ihn nur nicht ständig andere durchkreuzen würden.
Immerhin hatten die letzten Entwicklungen auch ihr Gutes. Hätten sich diese Lux Sangui nicht eingemischt, wäre Cyron jetzt tot und sie um einige Möglichkeiten ärmer. Wie zum Beispiel eine vielversprechende Waffe, die der Gestaltwandler ihr vermitteln wollte. Sein Kontaktmann im Untergrund war zuverlässig, soweit man den Quellen entnehmen konnte, auch wenn sie ihm keinen Deut traute. Aber er hatte offenbar wichtige Verbindungen, die er zu teilen bereit war. Gegen einen entsprechenden Preis.
Insofern hatte sich Cyron also doch weiterhin als nützlich erwiesen, und da Melissa es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn zur Strecke zu bringen, war er möglicherweise auch noch ein geeigneter Köder.
Ebenfalls interessant waren die vermehrten Todesfälle im Untergrund in der letzten Zeit. Sie war fast sicher, dass man sie auf die Dämonenjäger zurückführen konnte. Die Lux Sangui verfügten über einige neuartige, sehr spezielle Waffen. Ware dieser Art war immer sehr begehrt. Auch Cyrons Freund bezog seine Ware sicher dort,
Weitere Kostenlose Bücher