Ruf Des Dschungels
Tuare, seiner Frau Doriso-Bosa und ihren drei Kindern
Auch Kloru war in der Hütte und hielt stolz eines seiner Enkelkinder im Arm. Er rief mich zu sich herüber und berichtete mir ausführlich von jedem einzelnen Enkel. Einer nach dem anderen traten sie vor und zollten der fremden weißen Frau, von der sie schon viel gehört, die sie aber noch nie zuvor gesehen hatten, ihren Respekt.
Vor allem zu Tuares zweiter Tochter fühlte ich mich sofort hingezogen, ein sechs oder sieben Jahre altes Mädchen. Sie wirkte nicht ganz so schüchtern wie die anderen Kinder, sondern setzte sich sofort neben mich und umschloss meine Hand mit ihren kleinen hübschen Fingern. Sie erinnerte mich ein wenig an ihren Vater, dem ich zum ersten Mal vor über zwanzig Jahren begegnet war.
Erinnerungen kamen hoch, lange vergessene Gefühle verschafften sich auf einmal wieder Raum, die ich lange Jahre verdrängt hatte in dem Versuch, mich der fremden westlichen Kultur anzupassen. Tuare verkörperte für mich die Vergangenheit, die Kindheit schlechthin – und neben dieser Kindheit, die ich einst verleugnet und aus meinem Gedächtnis verbannt hatte, saß ich jetzt!
Ja, wir beide kannten uns wirklich schon lange. Als ich mit meiner Familie Anfang der 80 er Jahre zu den Fayu kam, hatten die Kinder furchtbare Angst vor uns »Farblosen«, wie ich es ja auch bei dieser Reise wieder erlebt hatte. Wahrscheinlich hatten wir für sie wie Leichen ausgesehen, die zu lange im Wasser lagen. Tuare hatte damals als Erster die Scheu vor uns verloren, und ihm hatten wir es letztlich zu verdanken, dass wir überhaupt ein Teil ihrer Welt und damit auch ihrer Gemeinschaft wurden. Wie aufregend, ihn jetzt wiederzusehen!
Kurz darauf trafen auch seine Brüder ein, Bebe und Babu-Bosa. Wieder war die Freude groß, und wir riefen wild durcheinander, als sie näher kamen, um mich zu begrüßen. Babu-Bosa, Tuares jüngerer Bruder, der etwa drei Jahre alt gewesen war, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, konnte sich nicht an mich erinnern. Dennoch sagte er, ich sei wie eine Schwester für ihn, da er von Tuare und Bebe so viele Geschichten über mich gehört hatte. Ich wunderte mich ein bisschen darüber, schließlich redeten die Fayu nicht über die Vergangenheit. Aber vielleicht war das ja ein erstes Zeichen der Veränderung, die mit der neuen Generation einherging. Vielleicht begannen sie so, ein wenig Vergangenheit in ihren Alltag mit hineinzunehmen: die Chance auf ein winziges Stück Geschichte.
Mit einem Blick nach draußen bemerkte ich, dass allmählich Mittagszeit war, und machte mich auf den Rückweg ins Dorf. Ich konnte es kaum erwarten, Papa von den Neuankömmlingen zu berichten. Die anderen schlossen sich mir an, und so gingen wir wie in alten Zeiten alle zusammen durch den prachtvollen Dschungel von West-Papua. Wellen der Freude durchströmten mich, während ich einen Fuß vor den anderen setzte und den groß gewachsenen Tuare vor mir betrachtete. Wie schon so oft fragte ich mich, wie es mir wohl ergangen wäre, wäre ich hier geblieben. Ich werde auf diese Frage wohl nie eine Antwort finden.
Im Dorf erwartete uns Papa. Er hatte bereits von den Neuankömmlingen erfahren. Zur Feier des Tages kochte er einen Riesentopf Reis und Nudeln für alle. Auf der schattigen Veranda genossen wir dann unser erstes gemeinsames Mahl. Alle redeten wild durcheinander, unseren Stimmen hörte man die Aufregung an.
Bei diesem Essen lernte ich eine attraktive junge Frau kennen, die Babu-Bosa mir stolz als seine Ehefrau vorstellte. Sie hieß Adia. Fürs Erste nahm ich nicht sonderlich viel Notiz von ihr, da ich von so vielen neuen und altbekannten Gesichtern umgeben war und alle darauf brannten, mir ihre Neuigkeiten zu erzählen oder ihren Nachwuchs vorzustellen. Erst ein paar Tage später erfuhr ich die ganze Geschichte über Babu-Bosa und Adia, deren Verbindung als wichtiger Meilenstein innerhalb der Fayu-Tradition angesehen werden kann. Eine Geschichte, die anderen Frauen den Weg ebnet, sich zukünftig das Recht auf Selbstbestimmung herauszunehmen; eine Geschichte, die ich später noch erzählen werde.
Doch an diesem Tag, an dem die Sonne hinter den dunklen, dichten Wolken hervorblitzte und die Vögel und Insekten von den Bäumen herab lautstark ihr Konzert gaben, war ich voll und ganz damit beschäftigt, mir neue Namen zu merken und die ständig neu Eintreffenden zu begrüßen.
Als ich endlich Bare unter ihnen entdeckte, war ich vor Freude ganz aus dem
Weitere Kostenlose Bücher