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Ruf Des Dschungels

Ruf Des Dschungels

Titel: Ruf Des Dschungels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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anderen Dingen, die bei uns mit Leichtigkeit behandelt werden könnten. Die Kindersterblichkeit ist bis heute hoch; wie schmerzlich muss es für eine junge Mutter sein, ihr Kind auf dem Arm zu halten, wenn alles Leben aus dem kleinen Körper schwindet. Wie schmerzlich muss es für einen jungen Mann sein, seine Mutter im Arm zu halten, wenn ihr Körper vor Fieber glüht. Wie hilflos müssen sie sich in Momenten wie diesen fühlen.
    Doch trotz all der Widrigkeiten haben sie es immer geschafft, genug zum Leben zu haben, sie haben den Kopf oben behalten und Jahrtausende überdauert. Trotz aller Not haben sie ihr Land, ihre Gesetze, ihre Kultur beibehalten, und ein jeder hat seinen festen Platz in der Gesellschaft.
    Selbst die größte Gefahr für den Stamm, jenen Teufelskreis aus Blutrache und Stammesfehden, der sie fast ausgelöscht hätte, haben die Fayu im allerletzten Moment besiegen können.
    Was wird der nächste Schritt sein? Eine der schwierigsten Herausforderungen dürfte dem Volk der Fayu noch bevorstehen, die Begegnung mit der modernen Welt.
     
    »Die Frage ist nicht, ob die Zivilisation jemals die Fayu erreichen wird, sondern vielmehr, ob sie bereit dafür sind«, sagte Papa mir vor einigen Jahren.
    Er war in Deutschland zu Besuch, und wir sprachen über die jüngste Entscheidung, die der YPPM gemeinsam mit den Dorfältesten getroffen hatte. Es ging darum, einige junge Fayu nach Jayapura zu schicken und ihre weitere Ausbildung zu fördern. Schließlich kann niemand die Zeit anhalten oder die Veränderungen verhindern, die sie mit sich bringt. Doch wie soll man ein Volk, dessen Mentalität und Wissen auf ein Leben im Dschungel ausgerichtet sind, auf all das vorbereiten? Wenn mir der Übergang in die westliche Welt schon so schwer gefallen ist, wie viel schwerer mag dann jede Veränderung für die Fayu sein?
    Der Vorschlag, diese »glücklichen Menschen« einfach im Dschungel sich selbst zu überlassen und sie von der Außenwelt abzuschotten, um ihre Kultur zu erhalten, ist in der heutigen Zeit absolut unrealistisch. Früher oder später wird die Moderne einbrechen – wenn nicht heute, dann morgen, kommende Woche, nächstes Jahr oder meinetwegen in zehn Jahren. Die wahre Bedrohung für die Eingeborenen von West-Papua liegt nicht im Wissen über die Außenwelt, sondern vielmehr in ihrem Unwissen. Gefahren lassen sich nur bannen, wenn man sie kennt und weiß, wie man mit ihnen umgehen soll.
    Wie sollte ein Mensch, der in Westeuropa aufgewachsen ist und von heute auf morgen in den Dschungel verfrachtet würde, überleben, ohne die dortigen Gefahren zu kennen? Die meisten Stämme wurden nicht deshalb zerstört, weil die Zivilisation sie erreichte, sondern weil sie nicht wussten, welche Gefahren damit einhergingen.
    Eine andere Verwendungsmöglichkeit für eine Axt …
    Vor einigen Jahren hatte Mama einige Fayu um sich versammelt. Neben einem Baum stellte sie eine Tafel auf und nahm eine Axt zur Hand, die Papa in Jayapura gekauft hatte. Es war eine schöne Axt mit einer glänzenden Metallklinge. Die Männer warfen beim Anblick dieses begehrenswerten Werkzeugs begehrliche Blicke. Mama hielt die Axt hoch, damit alle sie sehen konnten, und fragte, ob die Fayu ihr im Austausch dafür den Baum neben ihr schenken würden.
    »Ach, Doriso«, antworteten sie. »Wir geben dir zehn, nein zwanzig Bäume für diese Axt!«
    »Gut«, antwortete Mama. »Dann zeige ich euch jetzt, wie viele Äxte ich in Jayapura für diesen Baum bekomme.«
    Sie nahm ein Stück Kreide und malte Äxte auf die Tafel. Sie malte immer weiter und füllte eine Zeile nach der anderen. Die Augen der Fayu wurden größer und größer. Als Mama die gesamte Tafel voll gemalt hatte, drehte sie sich um und sagte: »Das ist der wahre Wert dieses einen Baumes. So viel bekomme ich in der Stadt für einen einzigen Baum, und ihr wollt mir allen Ernstes zwanzig Bäume für diese eine Axt geben?«
    Nicht lange nach diesem Vorfall kam eine Gruppe von Kundschaftern in das Stammesgebiet der Fayu. Sie erkundigten sich nach bestimmten wertvollen Baumarten. Die Fayu schickten die Männer wieder weg. Sie hatten verstanden, denn Mama hatte es nicht dabei belassen, ihnen zu erklären, wie hoch der Wert ihrer Bäume war. Genauso schärfte sie ihnen ein, dass ihnen ihr Land zwar groß vorkommen mochte und auch sehr viele Bäume dort wuchsen, dass es jedoch nur einen Tag brauchte, um einen Baum zu fällen, wohingegen es viele Jahre dauerte, bis ein neuer Baum nachgewachsen war.

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