Ruf Des Dschungels
sie war leer. Nichts war mehr da, sie waren weggegangen.
Mutterseelenallein saß ich in der Hütte und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen zwischen den Bretterspalten hindurchkrochen. Es roch nach der Asche des erloschenen Feuers, nach Fleisch und denen, die hier gerade noch gewesen waren. Es kam mir vor, als wäre mir diese Welt auf einmal vollkommen fremd – und dabei wusste ich genau, dass ich ebenso wenig in die andere, die westliche Welt gehörte. Es war, als schwebte ich im Nichts, ohne Boden unter den Füßen, ohne Wände, ohne Dach.
Tuare war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Ich hatte seine Kinder lieb gewonnen. Sie hatten mir seit ihrer Ankunft Gesellschaft geleistet, hatten meine Hand gehalten und ihr Essen mit mir geteilt. Gemeinsam mit ihnen hatte ich an süßem Zuckerrohr gekaut und war zusammengezuckt, als sie die lebendigen Käfer gegessen hatten. Wir hatten gelacht, waren zusammen den Hügel hinauf und über die Dschungelbrücke spaziert.
Das war die neue Generation, die gerade heranwuchs. Die ersten Kinder, die nicht in Kriegszeiten geboren waren, zumindest nicht in einem der Stammeskriege. Doch hatten sie eine Zukunft? Vielleicht würde der Krieg, den sie eventuell erlebten, kein Stammeskrieg sein, dafür wäre es ein Krieg der Kulturen, der Politik und der Korruption, und es ginge darum, mit völlig anderen Lebensbedingungen zurechtzukommen.
Ihre Zukunft war ungewiss, voller offener Fragen. Genau wie in meinem eigenen Leben herrschte auch hier Unsicherheit, und doch war dies das Stück Erde, das mir diese magische Kindheit voller Abenteuer beschert, das mir die Wunder des Lebens vor Augen geführt hatte. Meine Kindheit war seit vielen Jahren vorbei, und irgendwie wollte ich mich nicht damit abfinden. Die Fröhlichkeit und Sorglosigkeit waren verschwunden, ich jedoch klammerte mich mit aller Kraft an diese Erinnerungen. Aber es waren schließlich nur Erinnerungen, mehr nicht. Genau wie die Fayu war auch ich zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen Kulturen und Lebensweisen gefangen.
In der Einsamkeit dieser kleinen Hütte mitten im Dschungel trauerte ich um meine Kindheit, um Tuare und seine Kinder, um die vergangenen fünfzehn Jahre, doch am meisten trauerte ich um die Welt, die sich allmählich auflöste und die einmal mein Zuhause gewesen war. Eine Stunde lang saß ich da. Dann war es vorbei.
Als ich aus der Hütte kroch, begrüßte mich die strahlende Sonne. Es kam mir so vor, als wäre die Welt um mich herum viel strahlender, funkelnder und klarer als je zuvor. Neben der Dschungelbrücke saß Sophia-Bosa. Sie musste mir mit einigem Abstand gefolgt sein und auf mich gewartet haben. Als sie mich fragend ansah, lächelte ich ihr zu. Ich nahm sie an der Hand, und gemeinsam gingen wir über die Dschungelbrücke zurück ins Dorf. Im Laufen drückte ich ihre Hand ganz fest, und ich spürte, wie ein neues Band zwischen uns wuchs, ein Band zwischen zwei Generationen.
Die Zeiten haben sich für die Fayu geändert, und dennoch liegt in allem, was sie tun, immer noch eine große Verbundenheit mit der Tradition. Sei es im Trauern, in der Art, wie sie ihre Waffen stets mit sich führen oder wie sie essen, wie sie jagen oder ihre Hütten und Kanus bauen – es hat sich nicht viel verändert. Besonders ihre Mentalität, ihre Art zu denken, ist noch immer die gleiche wie vor zwanzig Jahren. Die Fayu waren und sind ein kleines Volk, das im Einklang mit der Natur lebt – ein schlichtes und dennoch hartes Dasein.
Es ist ein Leben, das von außen betrachtet ideal erscheinen mag, doch wenn man mittendrin steckt, bietet sich einem doch ein etwas anderes Bild. Ja, sie führen ein schlichtes Leben, und sie haben auch nicht die Probleme, mit denen wir uns hier im Westen auseinander setzen müssen, dafür kämpfen sie tagtäglich ums Überleben. In der Nacht frieren sie, ihre Palmdächer schützen nicht vor starkem Regen, auf den Hüttenböden aus Baumrinde krabbeln überall Insekten herum. Keine Wand hält den Wind oder die Mückenschwärme fern, die den Abendhimmel bevölkern. Ihr Speiseplan ist sehr eingeschränkt, jeder Bissen muss zuvor erjagt oder gesammelt werden, so gut wie nichts hält sich länger frisch, denn bei der hohen Luftfeuchtigkeit verdirbt alles sofort.
Die einseitige Ernährung hat Mangelerscheinungen zur Folge, und das schwache Immunsystem der Fayu begünstigt Krankheiten. Sie haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung und leiden unter Infektionen, Hautentzündungen und
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