Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
nicht wirklich etwas anderes vorstellen), musste sie in das Haus zurückgekehrt sein, nachdem alle anderen es verlassen hatten, oder sie hätte sich während der ganzen Suche irgendwo verstecken müssen. Alleine hätte sie der Suche entgehen können, aber nicht mit Clara auf dem Arm. Und hatte sie das Anwesen an diesem Morgen in aller Frühe verlassen, hätte sie Clara niemals dorthin zurückgebracht.
    Vor allem nicht, wenn es ihr Plan gewesen war zu fliehen. Angenommen, sie hätte mit jemandem vereinbart, er solle sie in der Morgendämmerung treffen – einige hundert Meter den Pfad hinauf vielleicht – und sie und Clara in Sicherheit bringen? Angenommen, in anderen Worten, Mrs   Bryants Tod war für Nell ein grässlicher Zufall, und sie hatte von vornherein zu der Séance nicht erscheinen wollen?
    Aber warum, wenn die Freiheit so nahe war, hätte sie nach Wraxford Hall zurückkehren sollen?
    Weil sie ihr Tagebuch vergessen hatte.
Während sich diese Worte in meinem Kopf formten, sah ich schon vor mir, wie es gewesen sein musste: Die ersten Stunden des Tages hatte sie wach gelegen und voller Angst auf das erste Morgenrot gewartet (sie hätte es nicht gewagt, ein Licht anzuzünden), hastig zog sie sich an – nein, sie war bereits angekleidet – sie nahm das schlafende Kind, das immer noch unter dem Einfluss von Laudanum stand – dann schloss sie die Tür hinter sich, voller Angst, das Schnappen des Schlosses könne sie verraten, aber in dem Wissen, dass es ihr mehr Zeit geben würde, um von Wraxford Hall fortzukommen. Kein Wunder, dass sie ihr Tagebuch zurückgelassen hatte; das einzige Rätsel war, warum sie die gefährliche Rückkehr auf sich nahm.
    Ja, sie hatte
vorgehabt,
das Tagebuch zu holen, aber zu dem Zeitpunkt stand bereits das ganze Haus kopf. Nell war im Herrenhaus gefangen, und ihr Komplize sah sich gezwungen, alleine mit dem Kind fortzufahren.
    Mir fiel auf, dass ich die Diamanten vergessen hatte; das Schmuckkästchen, das die Polizei unter den Dielen gefunden hatte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie in diesem entscheidenden Moment zurückging, um nach ihnen zu suchen – wo sie zunächst nicht einmal von ihrer Existenz gewusst hatte.
    Aber sie könnte sie, nach dieser letzten Auseinandersetzung mit Magnus, um Claras willen genommen haben. Angenommen, Nell hätte sich im oberen Stock des Hauses versteckt und wäre so den Suchern entronnen – vielleicht, indem sie von einem Raum zum anderen ging, immer ihnen voraus, bis sie aufgaben. Dann hätte sie gewartet, bis die letzte der Kutschen fortgefahren war, und wäre zur Treppe gegangen, wo sie Magnus auf dem unteren Treppenabsatz sah. Er verfolgte sie, sie entkam, aber nun war sie wieder eine Gefangene. Und so, voller Verzweiflung, hatte sie ihn mit der Pistole bedroht (hatte sie sie die ganze Zeit bei sich gehabt?) und ihn in die Rüstunggezwungen. Sie floh und überließ Magnus dem Hungertod – aber wie konnte sie sicher sein, dass er sich nicht befreien würde? Eher hatte er sich auf sie gestürzt, als sie die Platten schloss, und sie hatte in einem Akt der Selbstverteidigung auf ihn geschossen und dann den Mechanismus verkeilt aus Angst, er könne wieder zu sich kommen – oder aus Angst vor dem, was er als Toter werden könnte.
    Und dann   … war sie in ihr Zimmer gegangen, um ihr Tagebuch zu holen, um dort festzustellen, dass es fort war? Ihr Instinkt muss sie zur Flucht bewogen haben, in dem Wissen, dass ihr eigenes Leben verwirkt war, und nur in dem Gedanken an Clara. Vielleicht hatte er versucht, sein Leben mit den Diamanten zu erkaufen, als er sah, dass sie schießen wollte   … Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass sie das Schmuckkästchen unter den Dielen versteckt hatte, aber vielleicht sah sie in dieser Halskette Claras Zukunft, selbst als ihre eigene verloren schien.
     
    Das Feuer war heruntergebrannt. Der Regen hatte mehr oder minder aufgehört, aber der Wind heulte im Schornstein. Fröstelnd legte ich die restlichen Kohlen nach.
    Magnus hatte in seinem letzten Brief an Mr   Veitch erwähnt, dass es dunkelte, während er schrieb. Zum Zeitpunkt der entsetzlichen Auseinandersetzung wird es so gut wie dunkel gewesen sein. Eine weitere Nacht in Wraxford Hall zu bleiben muss undenkbar gewesen sein; aber wo könnte sie hingegangen sein? Nicht zu Clara; das hätte denjenigen, der sich um das Kind kümmerte, zum Mitschuldigen an einem Mord gemacht.
    Was hätte ich an Nells Stelle getan? Ich erinnerte mich,

Weitere Kostenlose Bücher