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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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zog mich in meinen Paletot zurück.
    Zweieinhalb Stunden, die kein Ende nehmen wollten, holpertenwir an unbestellten Feldern, Marschland und kleinen Wäldern vorbei. Die Pferde zockelten in immer gleicher Geschwindigkeit dahin. Sie schienen jede Wegbiegung zu kennen, denn Grimes lenkte auf der ganzen Fahrt nicht, und auch Drayton döste vor sich hin, den Kopf auf die Brust gesenkt, nachdem ich aufgehört hatte, ihn auszufragen. Schal und Mantel zum Trotz kroch mir die Kälte in die Knochen. Sie verlangsamte meine Gedanken und versetzte mich in einen dumpfen, tranceartigen Zustand voll böser Vorahnungen, bis ich in einen Traum versank, in dem ich jedes Knacken und Rattern des Wagens zu spüren meinte, zugleich aber sicher und warm am Kamin saß, um dann halb erfroren in der Düsterkeit des Mönchswaldes aufzuwachen. Ich tastete nach meiner Uhr: Es war bereits nach sechs. Erst nach weiteren fünfzehn Minuten zeichnete sich die riesige Eiche vor uns ab, und Grimes erhob sich aus den Tiefen seines Paletots, um im Ton von jemandem, der das Unglück eines anderen genießt, «Wraxford ’all» anzukündigen.
     
    Die Blitzableiter waren zwar in Dunst gehüllt, aber dennoch gut sichtbar in dem Nebel, der knapp über den Baumwipfeln hing. Das Herrenhaus sah noch dunkler und heruntergekommener aus, als ich es in Erinnerung hatte, das Gelände war noch wilder überwuchert. Das einzige Lebenszeichen war ein Wölkchen Rauch, das von Grimes’ Häuschen aufstieg und von der regengetränkten Luft niedergedrückt wurde.
    Wir hielten inmitten des Unkrauts vor dem Haupteingang. Ich streckte meine Glieder und stieg auf so tauben Füßen aus dem Wagen, dass ich kaum den Boden unter mir spüren konnte. Drayton war in noch schlimmerem Zustand: Ich musste ihm gegen seinen Protest aus dem Wagen helfen, wobei ich mich fragte, wie er das erst mitten im Winter machte. Grimes blieb zusammengesunken auf seinem Sitz, offensichtlich zu selbstvergessen, um wegzufahren, kaum dass wir ausgestiegen waren.
    Wie riskant meine Situation war, ging mir auf, als ich Drayton mit dem Schloss kämpfen sah (die Tür zu öffnen gehörte offensichtlich nicht zu den Pflichten des Dienstmädchens) und er mich in ein gewaltiges, widerhallendes Zimmer führte, das von einer Treppe, die in die Dunkelheit hinaufführte, bestimmt wurde. Weit über meinem Kopf konnte ich den Korridor erahnen, von dem Felix Wraxford in den Tod gerannt war.
    Der Boden war mit unebenen Steinplatten gefliest, die Wände waren mit dunklen Eichenpaneelen voller Wurmlöcher verkleidet. Alles roch nach Alter, Feuchtigkeit und Verfall; eine Todeskälte lag in der Luft.
    «Vielleicht», sagte ich zu Drayton, wobei ich das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken versuchte, «sollten Sie vorangehen. Es ist ja immerhin möglich, dass Ihr Herr einfach nur verschlafen hat.» Er antwortete mit einem so flehenden Blick, dass ich mich verpflichtet fühlte, ihn zu begleiten. Ich wünschte bei Gott, ich hätte dieses tollkühne Angebot niemals gemacht, während er langsam die Treppe hinaufging, vorbei an Gemälden, die so von Alter und Schmutz gedunkelt waren, dass man ihre Motive nicht mehr erkennen konnte. Als wir auf dem Flur ankamen, wusste ich durch Magnus’ Beschreibung, dass wir dem Arbeitszimmer gegenüberstanden und dass die beiden Doppeltüren in der dunklen Wandtäfelung zu unserer Linken zur Bibliothek und zur Galerie führten. Grauer Nebel drängte sich gegen die Fenster über unseren Köpfen und am anderen Ende des langen Ganges. Es war noch recht hell, aber das Licht schwand schnell dahin.
    «Ich glaube, Sie sollten noch einmal klopfen», sagte ich zu Drayton. Er hob die zitternde Hand und klopfte zaghaft an – keine Antwort. Ich trat heran und klopfte, immer lauter, bis das Echo gleich dem Geräusch von Schüssen das Treppenhaus hinauf- und hinunterpolterte. Ich drückte die Türklinke herunter, aber nichts geschah.
    «Dieser hier, Sir», sagte Drayton. Sein Gesicht war aschfahl,die Schlüssel tanzten und rasselten, als er sie mir reichte. Der Schlüssel passte nicht ins Schloss. Offensichtlich steckte auf der anderen Seite ein Schlüssel darin.
    «Es tut mir sehr leid, Sir», sagte Drayton schwach, «ich muss mich leider   …» Er wies auf einen Stuhl an der Wand rechts von uns. «Wo ist das Dienstmädchen?», fragte ich, während ich ihm zu dem Stuhl half. Er murmelte etwas Unverständliches.
    «Und Mrs   Grimes? – lassen Sie nur», sagte ich. «Zeigen Sie mir die Schlüssel zu den

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