Ruf! Mich! An! - Buschheuer, E: Ruf! Mich! An!
überbelegt. Den Rest kann sich jeder selbst ausrechnen.
Ich leide zuweilen unter eingebildetem Fäulnisgeruch. Aber dieser ist echt. Manche Passagiere sehen aus wie eine geplatzte Wurst und riechen auch nach Wurst. Manche sind lang und dünn wie Bohnenstangen und riechen nach essigsaurer Tonerde. Manche sehen aus wie Klementine, riechen aber nicht nach Ariel, sondern nach dritten Zähnen und Kukident. Lauter freilaufende Müllschweine. Ich sehe Schuppenflechte, Akne vulgaris, Morbus Basedow, nasenberingte Teenager mit Walkmen, albernen Ziegenbärten und tiefer gelegten Hosen, junge Muttis mit meterlangen glatzköpfigen brüllenden rülpsendenspuckenden Babys. Eine Lepra-Kolonie ist nichts dagegen. Ich rieche volle Windeln, kalte Kippen, saure Milch, Kantinenessen und sehr schmutzige Wäsche. Augen zu, Luft anhalten und durch!
Draußen steht ein Rudel japanischer Touristen. Passt nicht mehr rein und wartet, dicht gedrängt, auf den nächsten Bus. Man kann den Japsen unter diesen Umständen gar nicht verübeln, dass sie in Rudeln auftreten. Ich würde manchmal auch lieber im Rudel auftreten, aber ich kriege keins voll.
Wer jemals Bus gefahren ist, der weiß, dass der Kampf um einen Sitzplatz dem Kampf ums Überleben gleichkommt. Eine gute Möglichkeit, einen zu ergattern, bietet sich, wenn der, der dort sitzt, liest. Ich lese dann immer mit, stehend, über ihn gebeugt, egal, welcherart die Lektüre ist. Mitlesen ist in Deutschland hochgradig unbeliebt. Der um die Exklusivität seiner Lektüre Beraubte zieht, wenn er ’s merkt, gern ruckartig Buch oder Zeitung weg, versucht, den Dieb auf frischer Tat zu ertappen, und mit etwas Glück flieht er. Ich finde das impertinent. Obwohl ich es andererseits hasse, wenn bei mir jemand mitliest. Das ist geistiges Schmarotzertum! Wenn der Mitleser dazu noch rechts von mir sitzt, dann kann es gut sein, dass er die In & Out-Liste in BILD eher liest als ich, die ich doch immerhin dafür bezahlt habe! Ich blättere dann immer so lange vor und zurück, bis der Mitleser ganz duselig wird und aufgibt. Es lebe das Herrschaftswissen!
Heute gibt es keinen Sitzplatz. Und es liest auch keiner. Ich werde wie auf einem Viehtransport zwischen all den grauenhaft lauten Menschen hin und her geworfen. Wir stehen so eng wie der Rio-Bravo-Spargel im Schraubglas. SUMSEN IST BUPER, wirbt ein T-Shirt vor mir. Zwei ondulierte Leseclub-Schranzen unterhalten sich über einen»hinreißenden Holocaust-Roman«. Eine Henna-Frau, die ihre Zigaretten garantiert selbst dreht, vertraut einem Kiffer in Stretchjeans und Bär-Bequemschuhen an, dass sie jetzt »halt eine Klangschalentherapie« mache. Eine Reihe weiter hinten stehen zwei dicke Krönungskaffeetrinkerinnen. »Ihre Strickjacke ist toll«, lobt eine die andere. »War aber nich teuer! Orsay, neunundvierzig neunzig«, erwidert die zweite bescheiden. Da zerrt die erste triumphierend an ihrer Weste: »Neun neunzig, Tchibo«, sagt sie. »Und ein Pfund Beste Bohne gratis dazu!« Zwei Männer mit Bierfahne haben gestern »gelacht bis zur Vergasung«.
Da ich mich nie an Haltestangen festhalte, der Bakterien wegen, muss ich ausbalancieren. Ich bin eingezwängt zwischen einem Mann mit kleinem Kopf, großem Hut und buntgekacheltem Schal, einem dicken Jungen, von Kopf bis Fuß in Adidas verpuppt, und einem halbgroßen Mann mit Stirnglatze. Ein nervöses Kribbeln in den Händen beginnt, als ich gegen letzteren geschleudert werde. Ich krieg noch Herpes! Schmutzrand am Kragen, landminengroßer Schweißfleck unterm Arm, riecht nach stockiger Feinrippwäsche, sieht aus wie Homer Simpson. »Könnse nisch aufpassen?«, murrt Simpson. Ich lächle entwaffnend, und mir fällt ein, was der brave Mitmensch in solchen Fällen sagt: »Hoppla!«
Simpson grinst, als er mich erkennt. Dann erkenne ich ihn auch. Es ist Maik. Er holt Mändy von der Arbeit ab, sagt er. Sie arbeitet halbtags bei »Gogei«, sagt er und zeigt auf die Kookai-Filiale, an der wir gerade halten. »Fetzische Sachen gibt’s da. Einwandfrei! Das gab’s zu Ost-Zeiten nich. Es gab ja nüscht! Mior hattn ja nüscht!« Früher sei Mändy die Wetterfee beim »Fernsehfunk« gewesen, aber nach der Wende war Essig. »Mior gommnämlisch aus der Ex-DDR!«, vertraut er mir zwiebelstinkend an. Ex-DDR! Ex! Was soll denn das nun wieder sein! Inzwischen gesteht mir Maik, dass er früher Dispatcher war. Ein sicher durch und durch faszinierendes Berufsbild, bei uns im Westen völlig unbekannt. Maik erklärt mir auch, was
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