Ruf! Mich! An! - Buschheuer, E: Ruf! Mich! An!
Blödheit auf dieser Welt zu ertragen. Sich auf das Niveau vom Rest runtersaufen!
»’s geht mi ja nix an«, sagt der gamsbärtige Kaugummischlucker, der mich fortwährend beobachtet, »aber meinen S’ net, dass Sie z’vuii trinken?«
Ich versuche, furchterregend auszusehen. »Sie haben recht, Alpensepp! Es geht Sie nichts an!«
Ich muss mal. Wanke Richtung Klo. Es befindet sich in einem desaströsen Zustand. Innen an der Tür Gekritzel:
Eins ist Fakt: Gefickt wird nackt!
Und:
Wenn Arschlöcher fliegen könnten, dann wäre das hier ein Flugplatz.
Und:
Weißte, was du bist? Ein schwuler Kommunist!
Die Klobrille sieht mindestens nach Tripper aus. Ich benutze Einweghandschuhe, mehrere Tempos und Hakle feucht in der praktischen Minibox. Im Schlafwagen ziehe ich meinen roten Morgenmantel an – immerhin hat Angie damit John Wayne beeindruckt. In erster Linie bin ich aber besoffen, nehme zwei Tabletten, von denen ich hoffe, dass es Valium ist, und versuche, dekorativ einzuschlafen.
Musik wabert in mein Bewusstsein, ein schwerer, schleppender Klang, basslastig, ein harter, martialischer Sound, aber kein Techno, eher Jazz. Vor mir steht Valmont, mit Ledermantel und Kandelaber, unheimlich wie Dracula. Er ist groß und hat ein scharfkantiges finsteres Gesicht. Seine Augen sind dunkel umschattet wie die eines Inders. Er lächelt grimmig, diabolisch, kaltschnäuzig. Er ist furchterregend und schön im flackernden Kerzenlicht. Wenn er ein Mörder ist, dann ist er der schönste Mörder der Welt. Ich will mich aufrichten, um ihn besser sehen zu können, aber ich kann meine Arme nicht bewegen.
Valmont ist unwirklich, fremd, ein Rätsel. Er spricht kein Wort. Es gibt Dinge, die sind so perfekt, dass man erschrickt. Ist er hier, oder träume ich? Er kommt langsam näher, in der linken Hand den Kerzenleuchter mit drei flackernden Kerzen. Er reißt mir mit einem Ruck die Decke weg, öffnet den Gürtel meines Morgenmantels und betrachtet meinen Körper. Langsam neigt er denKerzenleuchter. Weißes Wachs löst sich träge und tropft. Ich sehe, wie es auf meinen Schenkel auftrifft, aber der Schmerz kommt verzögert. Ein paar Zehntelsekunden später. Ich träume nicht. Ein Stich, schrecklich schön. Valmont nähert sich, es tropft mehr Wachs auf Schenkel, Schoß, Bauch und Brüste. Ein Lustregen aus Wachs, jeder Tropfen trifft ins Mark. Die Körperoberfläche verfügt über zweihundertfünfzigtausend Kältepunkte und dreißigtausend Wärmepunkte. Sie sind hauptsächlich zur Differenzierung von Temperaturen da. Ich klage, genieße, versinke in einer geheimnisvollen dunklen Welt. Er macht mich abhängig und sich unsterblich. Valmont stellt in Zeitlupe den Leuchter auf dem Boden ab und sieht riesig aus, so von unten beleuchtet, wie Liam Neeson in
Schindlers Liste
.
Er streckt die Hand aus und streift mir den Morgenmantel von der Schulter. Seine Lippen sind leicht geöffnet. Ich will ihn küssen, aber meine Handgelenke sind links und rechts über meinem Kopf am Fensterrahmen festgebunden. Ich zerre und kämpfe und kann ihn doch nicht erreichen. Sein Mund ist jetzt genau vor meinem. Ich spüre seinen Atem, ich spüre ihn, ich rieche ihn, ich sauge ihn auf. Zwischen uns sind nur noch einige Zentimeter. Ich möchte ihn ansehen. Küssen und dabei ansehen. 92 von 100 Frauen, aber nur 52 von 100 Männern schließen die Augen beim Küssen. Beim leidenschaftlichen Kuss schlägt das Herz bis zu 150-mal in der Minute (normal 60–80). Der Blutdruck steigt von 120 auf 180. Die Atemfrequenz verfünffacht sich. Die Körpertemperatur steigt um 0,5 Grad.
»Ich möchte Sie küssen, Valmont«, sage ich zu dem Mund, der unmittelbar vor mir ist.
»Ich will jetzt nicht sprechen«, sagt streng der Mund.Nur noch Millimeter trennen uns. Ich spüre die Kühle seiner schmalen, harten, fordernden Lippen. Lippen bestehen zu über 50 Prozent aus Wasser.
Ich spitze meine, soweit es geht, um seine zu erreichen, spüre aber nur einen Hauch. Schon dieser Hauch kitzelt am ganzen Körper! Valmont riecht nach Nubukleder und billiger Seife und Sonne auf warmer Haut. Meine Zunge sucht seine. Seine Lippen schmecken salzig. Ein Kuss besteht aus 0,45 Milligramm Salz, 0,76 Milligramm Fett, 0,7 Milligramm Eiweiß, 0,16 Milligramm Drüsensekret und 61 Milligramm Wasser. Valmont beißt mich sanft, dann noch einmal fester und zieht sich rasch zurück wie ein Reptil, das neues Gift in seinen Drüsen sammeln muss.
Beim normalen Kuss werden zwölf Muskeln bewegt, beim
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