Ruhe Sanft
Schatten auf die eisige Landschaft des Carnegie Hill, wie dieser Teil Manhattans genannt wurde, weil das wunderschöne Carnegie Mansion an der Fifth Avenue die Gegend seit Anfang des Jahrhunderts überragt hatte, als das alles noch offenes Bauernland gewesen war. Das Carnegie Mansion war jetzt das Cooper-Hewitt Museum, und Carnegie Hill war eine Mischung aus gigantischen Stein- und Glasbauten, niedrigen Ladenfronten, eleganten Villen, Sandsteinhäusern und alten Backsteinmietshäusern aus der Vorkriegszeit. Hazel wohnte in einem der letzteren.
Als Wetzon sich auf der 92. Street nach Osten wandte, spürte sie mehr, als daß sie es sah, wie ein Auto ebenfalls abbog. Die Straßenbeleuchtung war nicht eingeschaltet, und die Straße war dunkel. Etwa auf halbem Weg bis zur nächsten Ecke blieb sie kurz stehen, um die Hände zu wechseln, ihre Tasche und die schwere Einkaufstüte zu vertauschen. Das Auto, das abgebogen war, fuhr ohne Licht, wie ein Schatten. Es hielt hinter ihr vor einem Sandsteinhaus. Wetzon ging weiter auf Hazels kleines Apartmenthaus zu, das fast an der Park Avenue lag. Das einzige Licht auf der Straße kam von den Fenstern der Wohnungen.
Das Motorengeräusch hinter ihr erinnerte sie wieder an das Auto. Es kroch hinter ihr her, als beobachte es ihren Weg. Ihre Nackenhärchen sträubten sich. Wetzon ging die zwei Stufen zu Hazels Haus hinauf, öffnete die Tür, ging hinein und schloß sie schnell hinter sich. Sie stellte die Taschen auf dem Marmorboden ab und drehte sich um. Wegen der Dunkelheit war es schwer, etwas auf der Straße zu erkennen, aber sie glaubte, das Auto zu sehen, das sich nicht bewegte, sondern wartend vor dem Haus stand.
Ohne zu überlegen ging sie hinaus. Ein anderes Auto bog um die Ecke und kam mit grellen Scheinwerfern die Straße herunter. Der Fahrer schien auf der Hupe zu liegen. Plötzlich gingen an dem wartenden Auto die Scheinwerfer an und blendeten Wetzon. Das wartende Auto ließ den Motor aufheulen und schoß mit quietschenden Reifen davon, bog rechts in die Park Avenue ein und verschwand. Das zweite Auto folgte mit hohem Tempo, und bevor es außer Sicht geriet, bemerkte Wetzon, daß das zweite Auto ein Taxi gewesen war.
Es war schwer, diesen Vorfall nicht mit Judy Blue in Verbindung zu bringen, der peripatetischen Taxifahrerin, die immer wieder in ihrem Leben auftauchte und stets unter sonderbaren Umständen. Hatte Judy Blue das Taxi gefahren? Wer war sie? Wetzon wußte, daß der Zufall in ihrem Leben in New York City eine eigenartige Rolle spielte. Sie schien immer Leute kennenzulernen, die Leute kannten, die sie kannte. Ihr Leben bestand aus Gliedern in einer großen Kette von Beziehungen.
Aber Judy Blue? Folgte Judy Blue ihr, und war hier das eigentliche Rätsel? Konnte es irgendwie mit Peepsie Cunningham Zusammenhängen? Hör auf, altes Mädchen, dachte sie, es war nur ein Taxi, und es gibt Tausende Taxis in New York City.
»Fünf, Ms. Wilson.« Hazels Liftführer — es gab keinen Portier — brach den Bann. Die meisten mit Lift ausgestatteten Gebäude in guten Vierteln Manhattans hatten entweder Portiers oder Liftführer, je nachdem, was der Mehrheit der Mieter lieber war. Die besten Gebäude hatten beides. Hazels Liftführer nahm die schwere Einkaufstüte und trug sie über den Korridor bis vor Hazels Wohnungstür, während Wetzon ihm folgte.
Ein hartnäckiger Summton kam vom Lift her. Der Liftführer stellte die Tüte auf Hazels brauner Sisalmatte ab und lief zum Lift zurück.
»Vielen Dank.« Wetzon drückte auf Hazels Türklingel, während sich die Lifttüren schlossen.
Hazel öffnete die Tür, auf den Stock gestützt, im selben rosa und weißen Morgenmantel und der rosa Rüschenhaube, und zog sie hinein. Wetzon liebte Hazels Offenheit, ihre Herzlichkeit, ihre Lebensfreude. Es war aufmunternd und ansteckend.
»Ich kann nicht lang bleiben. Ich werde um halb acht im Le Refuge erwartet.« Wetzon hängte den Mantel und die Baskenmütze an den viktorianischen Kleiderständer in der Diele und zog die Stiefel aus. Es war bereits halb sieben. Sie hob die pralle Tüte und ihre große Tasche hoch und folgte Hazel in die Küche, wo sie die Tüte auf einen der geschnitzten Eichenstühle stellte. Sie ließ sich auf einen anderen Küchenstuhl fallen und sah zu, wie Hazel die feinen Sachen auspackte.
»Sie sehen recht munter aus«, sagte sie und strahlte Hazel an.
Hazels blaue Augen funkelten, als sie in ein Papiertütchen blickte. »Mmm, Nußplätzchen. Die esse ich am
Weitere Kostenlose Bücher