Ruhelos
aß ein Sandwich. Er leckte sich die Finger ab und schüttelte Hamid die Hand.
»Hey, Bruder. Inschallah. Wohin des Wegs?«
»Summertown.«
»Ich komme mit. Bis dann, Ruth.« Er nahm sein Sandwich und folgte Hamid. Ich hörte den dumpfen metallischen Klang ihrer Schritte, als sie die Treppe hinabpolterten.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es zehn vor vier war, zehn vor fünf in Deutschland. Ich ging zum Telefon im Flur, zündete mir eine Zigarette an und wählte die private Büronummer von Karl-Heinz. Ich hörte es klingeln und konnte mir sein Zimmer genau vorstellen, den Korridor, an dem es lag, das Gebäude, in dem es sich befand, den gesichtslosen Vorort von Hamburg, wo das Gebäude stand.
»Karl-Heinz Kleist.« Ich hatte seine Stimme über ein Jahr nicht gehört, und für einen Moment raubte sie mir alle Kraft. Aber nur für einen Moment.
»Ich bin’s«, sagte ich.
»Ruth …« Sein Zögern war nur minimal, seine Überraschung komplett kaschiert. »Schön, deine angenehme englische Stimme zu hören. Dein Foto steht hier vor mir auf dem Schreibtisch.«
Seine Lügen waren glatt und unwiderlegbar wie eh und je.
»Ludger ist hier«, sagte ich.
»Wo?«
»Hier in Oxford. In meiner Wohnung.«
»Benimmt er sich?«
»Bis jetzt ja.« Ich erzählte ihm, wie Ludger aufgetaucht war – unangemeldet.
»Ich habe ihn lange nicht gesprochen … seit zehn Monaten nicht«, sagte Karl-Heinz. »Wir hatten Krach. Ich will ihn nicht wiedersehen.«
»Wie meinst du das?« Ich hörte, wie er nach einer Zigarette fingerte und sie anzündete.
»Ich habe ihm gesagt, du bist nicht mehr mein Bruder.«
»Warum? Was hat er dir getan?«
»Er ist ein bisschen verrückt, der liebe Ludger. Wenn nicht gar gefährlich. Hat sich mit verrückten Typen eingelassen. RAF, glaube ich.«
»RAF?«
»Die Rote-Armee-Fraktion. Baader-Meinhof, du weißt schon.«
Das war mir klar. In Deutschland fanden endlose Prozesse gegen Baader-Meinhof-Leute statt. Ulrike Meinhof hatte im Mai Selbstmord begangen. Aber Genaues wusste ich nicht – zum Zeitunglesen kam ich in letzter Zeit wenig. »Hat Ludger mit denen zu tun?«
»Weiß man’s? Er tat so, als würde er sie kennen. Ich sagte doch, ich spreche nicht mehr mit ihm. Er hat mir eine Menge Geld gestohlen. Und ich hab ihn aus meinem Leben gestrichen.« Karl-Heinz’ Stimme klang ganz unbeteiligt, als würde er vom Wetter reden.
»Ist er deshalb nach England gekommen?«
»Ich weiß nicht – ist mir egal. Frag ihn selbst. Ich glaube, er hat dich immer gemocht, Ruth. Du warst nett zu ihm.«
»Nein, nicht besonders.«
»Na, jedenfalls nicht unnett.« Er schwieg. »Ganz sicher bin ich nicht, aber möglicherweise wird er von der Polizei gesucht. Ich glaube, er hat Dummheiten gemacht. Üble Sachen. Pass lieber auf. Könnte sein, dass er sich verdrückt hat.«
»Dass er auf der Flucht ist?«
»Genau.«
Diesmal schwieg ich. »Und du kannst da nichts tun?«
»Nein. Tut mir leid. Ich sage dir doch, wir hatten Krach. Ich will ihn nie wiedersehen.«
»Okay, großartig, vielen Dank. Bye.«
»Wie geht es Jochen?«
»Es geht ihm sehr gut.«
»Gib ihm einen Kuss von seinem Vater.«
»Nein.«
»Sei nicht bitter, Ruth. Du hast alles gewusst, bevor das mit uns anfing. Alles war bekannt. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Ich habe dir keine Versprechungen gemacht.«
»Ich bin nicht bitter. Ich weiß nur, was das Beste für uns ist. Bye.«
Ich legte auf. Es war Zeit, Jochen von der Schule abzuholen. Mir war klar, dass ich Karl-Heinz nicht hätte anrufen dürfen. Schon bereute ich es. Es rührte alles wieder in mir auf. Alles, was ich mittlerweile sortiert, etikettiert und in den Schrank geschlossen hatte, lag wieder über den Fußboden meines Lebens verstreut. Ich lief durch die Banbury Street und beschwor mich selbst: Beruhige dich, es ist vorbei, beruhige dich, es ist zu Ende. Beruhige dich, er ist Geschichte.
Am selben Abend, Jochen war schon im Bett, blieb ich länger als sonst mit Ludger im Wohnzimmer sitzen und sah die Nachrichten im Fernsehen – nach langer Zeit mal wieder. Und wie es der böse Zufall wollte, kam ein Bericht über den Baader-Meinhof-Prozess, der sich nun schon über mehr als hundert Tage hinzog. Ludger in seinem Sessel wurde munter, als ein Gesicht auf dem Bild schirm erschien, ein Männergesicht, das hübsch war – auf die widerwärtige Art, mit jenem abschätzigen Lächeln, das manche Männer an sich haben.
»Hey, Andreas«, sagte Ludger. »Ich habe ihn mal
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