Ruhelos
ein Kind im Jahr 1948 oder 1956 vor, das seine Mutter fragte: »Mummy, wozu sind diese großen Luftballons da?« Romer meinte, ohne den Kriegseintritt der Amerikaner werde der Krieg noch mindestens zehn Jahre dauern. Allerdings, das musste sie zugeben, hatte er diese Voraussage im Mai in Ostende getroffen, im Zustand des Schocks und der Verbitterung, während sie mit ansahen, wie der deutsche Blitzkrieg durch Holland, Belgien und Frankreich raste. Zehn Jahre … 1950. Dann ist Kolja elf Jahre tot, dachte sie, und diese grausame Tatsache bedrückte sie – sie dachte ständig an ihn, nicht mehr jeden Tag, aber noch immer viele Male in der Woche. Werde ich auch 1950 noch so oft an ihn denken? Ja, sagte sie sich mit einem gewissen Trotz, ja, das werde ich.
Sie schlug die Zeitung auf, als der Bus zum Marble Arch kam. Wieder zweiundzwanzig feindliche Flugzeuge abgeschossen; Winston Churchill besucht Munitionsarbeiter; neue Bomber mit einer Reichweite bis nach Berlin und darüber hinaus. Sie fragte sich, ob das eine Falschmeldung der AAS war – es sah ganz danach aus. Langsam wurde sie so etwas wie eine Expertin für diese Dinge. Die Story klang realistisch und glaubhaft, aber auch auffallend vage und unbelegbar. »Der Sprecher des Luftfahrtministeriums wollte nicht in Abrede stellen, dass die RAF bald über solche Kapazitäten verfügen würde …« Alle Anzeichen trafen zu.
Sie stieg in der Fleet Street aus dem Bus, als er an einer Ampel hielt, und lief durch die Fetter Lane bis zu dem unscheinbaren Gebäude, in dem der Assekuranz- und Abrechnungsservice Ltd. untergebracht war. In der vierten Etage drückte sie die Klingel und wurde in ein schäbiges Vorzimmer eingelassen.
»Morgen, meine Liebe«, sagte Deirdre und hielt ihr einen Packen Zeitungsausschnitte hin, während sie mit der anderen Hand in einer Schreibtischlade wühlte.
»Morgen«, erwiderte Eva und nahm die Ausschnitte entgegen. Deirdre, eine hagere Kettenraucherin um die sechzig, war Herz und Seele des AAS – sie lieferte Ausrüstung und Material, Fahrkarten und Pässe, Medikamente und Auskünfte darüber, wer da war und wer nicht, wer krank war und wer »auf Reisen«, aber vor allem entschied sich an ihrer Person, ob man Zugang zu Romer erhielt oder nicht. Morris Devereux behauptete im Scherz, sie sei in Wirklichkeit Romers Mutter. Ihre raue, monotone Stimme untergrub weitgehend die Wirkung der liebevollen Anredeformen, mit denen sie alle und jeden bedachte. Sie drückte auf den Türsummer, und Eva konnte den dunklen Korridor betreten, in dem die Büros des Teams lagen.
Sylvia war schon da, wie sie sehen konnte; Blytheswood und Morris Devereux auch. Angus Woolf arbeitete bei Reuters, und Romer selbst bekleidete einen neuen Leitungsposten beim Daily Telegraph, hatte aber ein wenig benutztes Büro im Stockwerk darüber behalten, das man über eine enge, unbequeme Wendeltreppe erreichte und von dessen Fenster man in der Ferne den Holborn Viaduct sehen konnte. In ihren Büros versuchten die Mitarbeiter, die Agentur in Ostende mithilfe von verschlüsselten Telegrammen fortzuführen, die an einen belgischen Agenten mit dem Decknamen »Guy« gesendet wurden. Auch gewisse Kennwörter, die der AAS in ausländischen Meldungen platzierte, waren für »Guy« bestimmt, der die betreffenden Artikel dann an die Agenturkunden im besetzten Belgien weiterleitete – sofern es sie noch gab. Ob das System überhaupt funktionierte, war nicht klar; Evas Meinung nach betrieben sie einen wahrhaft beeindruckenden Scheinaufwand an Nachrichtenbeschaffung und -Versendung, von dem jeder für sich wusste, dass er bestenfalls unbedeutende, schlimmstenfalls gar keine Wirkungen erzielte. Die Arbeitsmoral sank täglich, und nirgends wurde das augenfälliger als in der Laune ihres Chefs: Romer war sichtlich angespannt, oft reizbar, verschlossen und grüblerisch. Es war nur eine Frage der Zeit, so flüsterten sie sich zu, dass AAS Ltd. geschlossen und sie alle versetzt wurden.
Eva hängte ihren Hut und die Gasmaske an den Türhaken, setzte sich an den Schreibtisch und schaute durch das schmutzige Fenster auf die triste Dachlandschaft hinaus. Ein Schmetterlingsstrauch spross aus der Dachrinne des Hofgebäudes gegenüber; drei kränkliche Tauben hockten auf einem Schornstein und putzten sich. Eva breitete die Ausschnitte auf dem Schreibtisch aus. Etwas aus einer italienischen Zeitung (ihre Story über die gesundheitlichen Probleme des Marschall Pétain), ein Hinweis auf die mangelnde
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