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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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sich über sein Gesicht. Schließlich stieß sie den abgebrochenen Scheibenwischer in die Wunde und stieg aus. Die Tür ließ sie offen. Eine letzte Prüfung mit der Taschenlampe, dann nahm sie ihre Tasche, kletterte aus der Schlucht und lief die Schotterstraße zurück Richtung Highway 80. Nach einer halben Meile etwa vergrub sie die restliche Karte, die Taschenlampe und den Bleistift unter einem Stein. Von ferne sah sie die Autoscheinwerfer auf dem Highway und die Lichter von Berdino. Sie wusste, was als Nächstes zu tun war: ein anonymer Anruf bei der Polizei, mit der Meldung eines Unfalls an der Straße nach Leopold. Ein Taxi würde sie zur Mesilla Motor Lodge zurückbringen. Sie würde ihre Rechnung bezahlen und noch in der Nacht Richtung Albuquerque abreisen. Sie hatte getan, was sie konnte, aber den einen Gedanken wurde sie nicht los, als sie zu einer Texaco-Tankstelle am Stadtrand von Berdino gelangte. Sie musste der Wahrheit ins Auge schauen: Jemand hatte sie verraten.

10
Das Treffen mit Lucas Romer
    Ich verbrachte gut zwanzig Minuten vor David Bombergs Porträt von Lucas Romer, vermutlich auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen, aber auch deshalb, weil ich den Mann, dem meine Mutter 1939 begegnet war, von dem Mann unterscheiden wollte, den ich 1976 vor mir haben würde.
    Das Porträt war lebensgroß, ein Brustbild von etwa dreißig mal vierzig Zentimetern Größe. Der breite Rahmen aus glattem schwarzem Holz ließ das kleine Gemälde imposanter wirken, aber dennoch hing es versteckt in einem oberen Flur der National Portrait Gallery. Der Maler war in diesem Fall bedeutender als sein Modell: Die Angaben an der Wand bezogen sich sämtlich auf David Bomberg, der Titel lautete schlicht »Lucas Romer, ein Freund«, die Datierung »1936?« – drei Jahre vor seiner Begegnung mit Eva Delektorskaja.
    Bei dem Bild handelte es sich eindeutig um eine Skizze, die vor allem wegen ihres fließenden, pastosen Farbauftrags bemerkenswert war – vielleicht eine Studie, die später geglättet werden sollte, hätte es noch eine weitere Sitzung gegeben. Ich hatte den Eindruck, dass es ein gutes Gemälde war, ein gutes Porträt, das den Charakter des Porträtierten kräftig hervortreten ließ, obwohl ich nicht wusste, wie gut er wirklich getroffen war. Lucas Romer blickte den Betrachter an – suchte den empathischen Blickkontakt –, seine Augenfarbe von einem hellen Blaugrau, und sein Mund war angespannt, fast ein wenig verzogen, und signalisierte Ungeduld, Unzufriedenheit mit dem Zwang des Stillsitzens. Sein Haar wurde schon ein wenig dünn, wie es ihre Mutter beschrieben hatte, er trug ein weißes Hemd, ein blaues Jackett, fast im Farbton seiner Augen, dazu eine Krawatte von einem unscheinbaren grünlichen Beige. Von der Krawatte war nur der Knoten sichtbar.
    Bomberg hatte den Kopf mit dicken schwarzen Pinselstrichen umrissen, mit dem Effekt, dass der Blick auf die davon umgrenzte Fläche gelenkt wurde. Blaue, grüngraue, blassgelbe, rosa, braune und schwarzgraue Töne, wild aufgetragen, vereinten sich, um die Schattierungen der Haut und eines kräftigen Bartwuchses hervorzubringen. Die Pinselstriche waren dick, pigmentstark, energiegeladen, selbstbewusst. Ich hatte sofort den Eindruck, mit einer Persönlichkeit konfrontiert zu sein – einer starken, vielleicht sogar herrischen –, ohne mich von irgendeinem Vorwissen leiten zu lassen. Große, tiefliegende Augen, markante Nase; das vielleicht einzige Zeichen der Schwäche ging von seinem Mund aus: ziemlich füllige Lippen, die sich zu einem Ausdruck mühsam beherrschter Ungeduld verzogen. Ein Befehlstyp? Ein hochnäsiger Intellektueller? Ein komplizierter, neurotischer Künstler? Vielleicht brauchte man etwas von all diesen Eigenschaften, um Agentenführer zu sein und ein eigenes Team zu leiten.
    Ich ging wieder hinunter ins Foyer und beschloss, zu Fuß zum Brydges’ zu laufen. Vorher aber suchte ich die Damentoilette auf und betrachtete mich im Spiegel. Was verriet dieses Porträt über die Porträtierte? Mein dichtes langes Haar war lose und frisch gewaschen, ich hatte blassrosa Lippenstift aufgelegt und die gewohnten dunklen Augenschatten. Dazu trug ich einen ziemlich neuen schwarzen Hosenanzug mit kräftig weißen Nähten an den Säumen und den aufgesetzten Taschen – und verdeckt von den Hosenbeinen waren meine Plateausohlen. Heute wollte ich besonders groß wirken, und ich sah verdammt gut aus, wie ich fand. Und die abgewetzte Lederaktentasche gab dem Ganzen

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