Ruhelos
eine leicht verquere Note.
Ich überquerte den Trafalgar Square Richtung Pall Mall, nahm dann die Abkürzung über den St. James’ Square zu dem Gassengewirr um die Jermyn Street, wo ich das Brydges’ finden würde. Die Tür war von einem diskreten glänzenden Schwarz mit fein ziseliertem Oberlicht voller Schnörkel und Wellenmuster. Kein Namensschild, nur eine Nummer. Ich drückte die Klingel aus Messing und wurde von einem misstrauischen Portier mit marineblauer Uniform und roten Revers eingelassen. Ich hätte eine Verabredung mit Lord Mansfield, sagte ich, und er zog sich in eine Art gläserne Telefonzelle zurück, um ein Buch zu konsultieren.
»Ruth Gilmartin«, sagte ich. »Achtzehn Uhr.«
»Hier entlang, Miss.«
Ich folgte ihm die breit geschwungene Treppe hinauf und stellte fest, dass sich hinter dem bescheidenen Portal ein Gebäude von großzügigen und eleganten Proportionen verbarg. Im ersten Stock passierten wir eine Bibliothek – tiefe Sofas, düstere Porträts, ein paar alte Herren beim Lesen von Zeitungen –, dann eine Bar (ein paar alte Herren beim Trinken), dann einen Speisesalon, der gerade von jungen Mädchen in schwarzen Röcken und zarten weißen Blusen eingedeckt wurde. Ich spürte, dass Frauen, die nicht in dienender Funktion waren, hier eine Seltenheit darstellten. Wir bogen in einen Korridor ein, wo wir an einer Garderobe vorbeikamen und einer Herrentoilette (der Geruch von Reinigungsmitteln und Haaröl, leise rauschte die Spülung der Urinale), aus der ein alter Herr mit Stock herauskam und bei meinem Anblick ungläubig zusammenzuckte.
»Guten Abend«, sagte ich und wurde ruhiger und wütender zur gleichen Zeit. Wütender, weil ich wusste, was hier offensichtlich und in krasser Weise veranstaltet wurde; ruhiger, weil Romer nicht wissen konnte, dass es nicht nur nicht funktionieren, sondern außerdem kontraproduktiv sein würde. Wir bogen um eine weitere Ecke und gelangten zu einer Tür mit der Aufschrift »Ladies’ Drawing Room«.
»Lord Mansfield wird Sie hier empfangen«, sagte der Portier und öffnete die Tür.
»Woher wissen Sie, ob ich eine Lady bin?«, fragte ich.
»Entschuldigung, Miss?«
»Ach, vergessen Sie’s.«
Ich schob mich an ihm vorbei und betrat den Ladies’ Drawing Room. Er war eng, billig möbliert und roch nach Teppichreiniger und Bohnerwachs. Die gesamte Einrichtung verriet mir, dass er unbenutzt war: Vorhänge aus Chintz, die Wandleuchten mit rotbraunen Schirmen und safranfarbenen Fransen, auf dem Couchtisch ausgebreitet eine Auswahl ungelesener »Damenmagazine« – House & Garden, Woman’s Journal, Lady –, auf dem Sims des leeren Kamins dürstete eine Büropalme vor sich hin.
Als der Portier gegangen war, schob ich den größten Sessel einen Meter zur Seite, so dass er vor dem einzigen Fenster stand; ich wollte, dass mein Gesicht im Schatten blieb und Romer vom Licht des Sommerabends angestrahlt wurde. Ich öffnete die Aktentasche und nahm Block und Stift heraus.
Ich wartete fünfzehn Minuten, zwanzig Minuten, fünfundzwanzig Minuten. Natürlich lag auch darin Absicht, aber ich war ganz froh über die Wartezeit, weil ich auf diese Weise gezwungen war, mich mit der ungewohnten Tatsache auseinanderzusetzen, dass ich dieser Begegnung mit ziemlicher Nervosität entgegensah – einer Begegnung mit dem Mann, der mit meiner Mutter geschlafen hatte, der sie angeworben hatte, der sie »geführt« hatte, wie man so schön sagte, und dem sie an einem kalten Tag in Manhattan 1941 ihre Liebe gestanden hatte. Zum ersten Mal vielleicht spürte ich, dass Eva Delektorskaja für mich Realität annahm. Aber je länger mich Romer warten ließ, je mehr er mich einschüchtern wollte in dieser angestaubten Bastion des männlichen Establishments, umso saurer wurde ich – und entsprechend unsicherer.
Endlich öffnete der Portier die Tür: Dahinter zeigte sich eine Gestalt.
»Miss Gilmartin, Euer Lordschaft«, sagte der Portier und trollte sich.
Romer trat ein, ein Lächeln auf dem hageren, gealterten Gesicht.
»Tut mir sehr leid, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte er, seine Stimme klang belegt und ein wenig heiser, als hätte er jede Menge Polypen im Rachen. »Lästige Anrufe. Gestatten, Lucas Romer.« Er streckte die Hand aus.
»Ruth Gilmartin«, sagte ich und stand auf. Ich war genauso groß wie er und drückte ihm die Hand, so fest ich nur konnte, ohne ihn anzustarren, obwohl ich mir nur zu gern die Zeit genommen hätte, ihn für ein paar Minuten durch einen
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