Ruhelos
Einwegspiegel zu beobachten.
Er trug einen perfekt geschnittenen mitternachtsblauen Einreiher mit cremefarbenem Hemd und dunkelbrauner Strickkrawatte. Sein Lächeln war so strahlend, wie es meine Mutter beschrieben hatte, auch wenn man nun das Gold hochwertiger Gebisskorrekturen aufblitzen sah. Sein verbliebenes Haar, halblang, geölt, hatte er wie zwei graue Flügel glatt nach hinten gekämmt. Obwohl schlank, ging er ein wenig gebeugt, aber dass er einmal gut ausgesehen haben musste, sah man diesem Siebenundsiebzigjährigen noch immer an; bei entsprechender Beleuchtung wäre es schwer gewesen, sein Alter zu bestimmen – ein stattlicher älterer Herr. Ich setzte mich in meinen zurechtgeschobenen Sessel, bevor er ihn für sich beanspruchen oder mich auf einen anderen Platz weisen konnte. Er zog es vor, so weit entfernt wie möglich zu sitzen, und fragte mich, ob ich Tee wolle.
»Ich hätte nichts gegen etwas Alkoholisches«, erwiderte ich. »Wenn Derartiges in einem Ladies’ Drawing Room serviert wird.«
»Oh, sicher«, sagte er. »Wir sind sehr großzügig im Brydges’.«
Er drückte eine Klingel, die an der Kante des Couchtisches angebracht war, und fast augenblicklich erschien ein weiß befrackter Kellner mit einem Silbertablett unter dem Arm.
»Was hätten Sie gern, Miss Martin?«
»Gilmartin.«
»Verzeihen Sie – die Vergesslichkeit eines alten Mannes. Miss Gilmartin. Womit können wir dienen?«
»Einen großen Whisky mit Soda, bitte.«
»Hier werden ausschließlich große Whiskys serviert.« Zum Kellner sagte er: »Für mich einen Tomatensaft, Boris. Mit einer Prise Selleriesalz, ohne Worcestershire.« Dann wieder zu mir: »An Blends haben wir nur J&B und Bell’s.«
»In dem Fall bitte einen Bell’s.« Ich hatte keine Ahnung, was J&B war.
»Jawohl, Euer Lordschaft«, sagte der Kellner und ging.
»Wirklich, ich habe mich sehr auf dieses Treffen gefreut«, sagte er mit offenkundiger Unaufrichtigkeit. »In meinem Alter fühlt man sich völlig vergessen. Und plötzlich ruft eine Zeitung an und will einen interviewen. Eine Überraschung, aber eine schöne, denke ich. Der Observer, nicht wahr?«
»Der Telegraph. «
»Hervorragend. Wer ist übrigens Ihr Redakteur? Kennen Sie Toby Litton-Fry?«
»Nein. Ich arbeite mit Robert York«, sagte ich, ohne zu zögern.
»Robert York … Ich werde mich bei Toby nach ihm erkundigen.« Er lächelte. »Damit ich weiß, wer Ihre Texte redigiert.«
Unsere Drinks wurden gebracht. Boris servierte sie auf Pappuntersetzern und stellte eine Untertasse mit gesalzenen Erdnüssen dazu.
»Die können Sie wegnehmen, Boris«, sagte Romer. »Whisky und Erdnüsse – nein, unmöglich.« Er lachte. »Wann werden Sie das jemals lernen?«
Als Boris gegangen war, schlug Romers Stimmung plötzlich um. Ich konnte nicht genau analysieren, warum, aber sein falscher Charme schien mit Boris und den Erdnüssen den Raum verlassen zu haben. Das Lächeln stand ihm noch im Gesicht, aber die vorgetäuschte Freundlichkeit war verschwunden. Er musterte mich neugierig, fast ein wenig feindselig.
»Bevor wir unser faszinierendes Interview beginnen, Miss Gilmartin, möchte ich Ihnen eine Frage stellen, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben.«
»Schießen Sie los.«
»Meiner Sekretärin gegenüber haben Sie AAS Ltd. erwähnt.«
»Ja.«
»Wo sind Sie auf diesen Namen gestoßen?«
»In Archivunterlagen.«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
»Das täte mir sehr leid«, erwiderte ich, plötzlich auf der Hut. Sein Blick richtete sich auf mich, kalt und bohrend. Ich hielt ihm stand und redete weiter. »Sie können ja nicht wissen, was der Forschung und den Historikern in den Jahren seit der Aufdeckung ides Ultra-Geheimnisses zugänglich geworden ist. Enigma, Bletchley Park – der Deckel ist gelüftet; alle wollen jetzt ihre Geschichte erzählen. Und sehr viel von diesem Material ist – wie soll ich sagen – informell, privat.«
In seinem Kopf arbeitete es.
»Eine schriftliche Quelle, sagen Sie?«
»Ja.«
»Haben Sie die gesehen?«
»Nein, nicht persönlich.« Ich spielte lieber auf Zeit, weil mir nun doch ein bisschen mulmig wurde. Obwohl mich meine Mutter darauf vorbereitet hatte, dass er beim Stichwort »AAS Ltd.« ganz besonders hellhörig werden würde. »Ich habe die Information von einem Oxford-Professor, der eine Geschichte des britischen Geheimdienstes schreibt«, erklärte ich schnell.
»Ach, wirklich?« Romer seufzte, und sein Seufzen besagte: Was für eine Zeitverschwendung.
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