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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Transoceanic an. Fünf Tage waren seit den Vorfällen in Las Cruces vergangen, und in diesen fünf Tagen war sie auf Umwegen und unter Nutzung aller verfügbaren Verkehrsmittel – Flugzeug, Eisenbahn, Bus und Pkw – nach New York zurückgekehrt. Den ersten Tag in New York hatte sie damit verbracht, ihr eigenes Quartier zu beobachten. Als sie sicher war, dass niemand es bewachte, wagte sie sich hinein und verkroch sich erst einmal. Und als sie schließlich vermutete, dass man sich wegen ihres langen Schweigens allmählich Sorgen machte, rief sie an.
    »Eve!« Morris Devereux schrie fast und vergaß die Konspiration. »Gott sei Dank. Wo steckst du?«
    »Irgendwo an der Ostküste«, sagte sie. »Morris, ich werde nicht kommen.«
    »Aber du musst«, sagte er. »Wir müssen dich sehen. Die Dinge haben sich geändert.«
    »Weißt du denn, was dort unten passiert ist?«, sagte sie ziemlich giftig. »Ich kann froh sein, dass ich noch am Leben bin. Ich will Romer sprechen. Ist er zurück?«
    »Ja.«
    »Sag ihm, ich rufe ihn auf Sylvias Nummer bei der BSC an. Morgen Nachmittag um vier.«
    Sie legte auf.
    Dann kaufte sie ein – eine Büchsensuppe, ein Brot, drei Äpfel und zwei Packungen Lucky Strike – und kehrte zurück in ihr Zimmer im dritten Stock des Mietshauses in der Pineapple Street. Niemand behelligte sie, keiner ihrer anonymen Nachbarn schien zu registrieren, dass Miss Margery Allerdice im Hause war. Wenn sie das Badezimmerfenster öffnete und sich so weit hinauslehnte, wie es ging, konnte sie eine Turmspitze der Brooklyn Bridge sehen – aber nur an klaren Tagen. Sie hatte ein Wandklappbett, zwei Sessel, ein Radio, eine Kochnische mit zwei elektrischen Kochplatten, einen Ausguss aus Speckstein mit Kaltwasserhahn und ein Bad, abgetrennt durch einen Plastikvorhang mit tropischen Fischen, die alle in dieselbe Richtung schwammen. Sie machte die Suppe warm – Pilzsuppe –, aß sie mit Brot und Butter, dann rauchte sie drei Zigaretten und überlegte, was zu tun war. Vielleicht, dachte sie, ist es das Beste, jetzt zu fliehen … Sie hatte gute Papiere; als Margery Allerdice konnte sie verschwinden, bevor es überhaupt jemand bemerkte. Aber wohin? Nach Mexiko, und von dort per Schiff nach Spanien oder Portugal? Oder nach Kanada vielleicht? Oder war das zu nah? Und die BSC hatte auch in Kanada beachtliche Kräfte stationiert. Sie erwog die Vor- und Nachteile, schätzte, dass sie in Kanada besser zurechtkam, dass es dort leichter war, unerkannt zu bleiben. In Mexiko würde sie auffallen – eine junge Engländerin –, aber sie konnte weiter nach Brasilien oder, besser noch, nach Argentinien. In Argentinien lebten viele Engländer, sie konnte einen Job finden, als Übersetzerin, sich eine neue Legende geben, unsichtbar werden, sich irgendwo vergraben. Und das wollte sie am liebsten – aus der Welt verschwinden. Aber dann wurde ihr klar, dass all das Planen und Spekulieren, so wichtig es sein mochte, zu keinem Ergebnis führen würde, bevor sie nicht Romer gesehen und gesprochen hatte. Sie musste ihm berichten, was passiert war – vielleicht hatte er ja eine Erklärung für die vielen Ungereimtheiten. Danach konnte sie Entschlüsse fassen, vorher nicht.
    Als es Abend war, hörte sie ein wenig Musik im Radio und ging die Vorfälle von Las Cruces noch einmal durch. »Die Vorfälle von Las Cruces« – eine tröstliche Formulierung: als wäre ihr Hotelzimmer doppelt gebucht gewesen oder ihr Auto auf dem Highway 80 liegen geblieben. Sie empfand keine Schuldgefühle, keine Reue wegen de Baca. Hätte sie ihn nicht getötet, hätte er sie getötet, wenige Augenblicke später. Geplant hatte sie nur, ihm ins Auge zu stechen und zu fliehen. Schließlich hatte sie nichts als einen gespitzten Bleistift – seine Augen waren das einzig sinnvolle Ziel, wenn es darum ging, ihn außer Gefecht zu setzen. Aber als sie an die entscheidenden Sekunden im Auto zurückdachte, an de Bacas Reaktion, seinen totalen Stupor, gefolgt vom sofortigen Tod, kam sie zu dem Schluss, dass der kraftvoll ausgeführte Stich mit dem Bleistift durch seinen Augapfel und den Sehnervenkanal direkt in sein Gehirn eingedrungen sein musste und dabei die Kopfschlagader – vielleicht auch den Hirnstamm – zerstört und auf diese Weise den fast augenblicklichen Herzstillstand herbeigeführt hatte. Eine andere Erklärung für seinen schnellen Tod gab es nicht. Hätte sie die Arterie verfehlt und der Bleistift wäre nur in sein Gehirn eingedrungen, hätte de Baca

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