Ruhig Blut!
etwas damit zu tun? Ich dachte, es läge an den Krabben.«
Ein Schrei fuhr durch den Wald. Er schien aus vielen einzelnen Komponenten zu bestehen, aber es klang hauptsächlich nach einem Truthahn, der am anderen Ende einer langen Blechröhre erdrosselt wurde.
»Was zum Kuckuck war das denn?« rief Himmelwärts.
Agnes blickte sich verwirrt um. Sie war in den Wäldern von Lancre aufgewachsen. Manchmal sah man dort seltsame Dinge, aber normalerweise waren sie nur auf der Durchreise und enthielten nichts Gefährlicheres als andere Leute. Doch jetzt, in diesem matten Licht, wirkten selbst die Bäume verdächtig.
»Ich schlage vor, wir gehen runter zum Blöden Kaff«, sagte sie und zog an Himmelwärts’ Hand.
»Wie bitte?«
Agnes seufzte. »Ich meine das nächste Dorf.«
»Blödes Kaff?«
»Einmal kam ein Reisender dorthin«, erklärte Agnes so geduldig wie
möglich. Die Lancrestianer hatten sich längst an so etwas gewöhnt. »Er war nicht besonders guter Laune, und als er die Häuser im Regen sah, meinte er: ›Meine Güte, ist dies ein blödes Kaff!‹ Da der Ort zu jener Zeit noch keinen Namen hatte, haben sie die Bezeichnung einfach übernommen…«
Erneut hallte der gräßliche Schrei durch den Wald. Agnes dachte an gewisse Geschöpfe, die es Gerüchten zufolge in den Bergen geben sollte, und zog Hilbert Himmelwärts wie einen Karren hinter sich her.
Dann erklang das Geräusch direkt vor ihnen, und dort, wo der Weg eine Kurve beschrieb, ragte ein Kopf aus dem Gebüsch.
Agnes hatte Bilder von einem Strauß gesehen.
Man skizziere einen, male Kopf und Hals mit einem grellen Gelb an, füge eine Halskrause aus roten und purpurnen Federn hinzu und statte den Kopf mit zwei großen runden Augen aus, deren Pupillen bei jeder Bewegung erzittern…
»Ist das ein besonders lancrestianisches Huhn?« fragte Himmelwärts eingeschüchtert.
»Ich bezweifle es«, erwiderte Agnes. Eine der langen Federn war mit einem Schottenkaro verziert.
Der Schrei hob erneut an, brach jedoch ab, als Agnes vortrat, die Erscheinung am Hals packte und daran zog.
Ein Arm wurde sichtbar, und ihm folgte eine Gestalt aus dem Busch. »Festgreifaah?«
Er antwortete mit einem Quaken.
»Nimm das Ding aus dem Mund«, sagte Agnes. »Damit klingst du wie
ein Narr.«
Er ließ die Pfeife verschwinden. »Entschuldige, Fräulein Nitt.« »Auch auf die Gefahr hin, daß mir die Antwort nicht gefällt: Festgreifaah, warum versteckst du dich im Gebüsch, deinen Arm wie Hetty die Henne zurechtgemacht? Und warum machst du so gräßliche Geräu
sche?«
»Ich versuche, den Phönix anzulocken, Fräulein.«
»Den Phönix? Das ist doch ein mythologischer Vogel, Festgreifaah.« »Ja, Fräulein. Und jetzt gibt es einen in Lancre, Fräulein. Er ist noch
sehr klein, Fräulein. Und ich bemühe mich, ihn zu finden.«
Agnes betrachtete den bunten Ärmel. Oh, ja, wenn man Küken großzog, so mußte man ihnen zeigen, welche Art von Vogel sie waren, und dafür benutzte man eine Mischung aus Handschuh und Puppe. Aber…
»Festgreifaah?«
»Ja, Fräulein?«
»Ich bin natürlich keine Expertin, aber wenn ich mich recht entsinne,
geht aus der allgemein bekannten Legende hervor, daß der Phönix nie seine Eltern zu Gesicht bekommt. Es gibt immer nur jeweils einen Phönix. Ein Jungvogel ist automatisch Waise. Verstehst du?«
»Ähm, darf ich etwas hinzufügen?« fragte Himmelwärts. »Ich muß sagen, daß Fräulein Nitt recht hat. Der Phönix baut ein Nest und verbrennt dann, woraufhin sich ein neuer Vogel aus der Asche erhebt. Das habe ich gelesen. Wie dem auch sei: Es ist eine Allegorie.«
Festgreifaah betrachtete den Puppenphönix an seinem Arm und senkte verlegen den Blick.
»Entschuldige bitte, Fräulein.«
»Es läuft also darauf hinaus, daß ein Phönix nie einen anderen Phönix sehen kann«, betonte Agnes.
»Davon weiß ich leider nichts, Fräulein«, sagte Festgreifaah und starrte noch immer auf seine Stiefel.
Agnes fiel etwas ein. Der Falkner hielt sich praktisch immer draußen auf…
»Festgreifaah?«
»Ja, Fräulein?«
»Bist du den ganzen Morgen über im Wald gewesen?«
»Oh, ja, Fräulein.«
»Hast du Oma Wetterwachs gesehen?«
»Ja, Fräulein.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Fräulein.«
»Wo?«
»Oben im Wald unweit der Grenze, Fräulein. Beim ersten Licht des
Tages, Fräulein.«
»Warum hast du es mir nicht sofort gesagt?«
»Äh… wolltest du es wissen, Fräulein?«
»Oh. Ja… Was hast du dort oben gemacht?«
Festgreifaah antwortete, indem er mehrmals in
Weitere Kostenlose Bücher