Ruhig Blut!
kurz nach ihr, bildeten dann ein silberweißes Vlies unter dem stummen, kalten Licht des Mondes.
Vlad war nicht an ihrer Seite. Agnes’ Aufstieg verlangsamte sich, und sie breitete die Arme aus, griff nach etwas, das gar nicht existierte. Dann fiel sie zurück…
Plötzlich erschien der Sohn des Grafen, lachte und hielt sie an der Taille.
»… oder?«
Agnes brachte keinen Ton heraus. Eben war das Leben in der einen Richtung an ihrem inneren Auge vorbeigezogen, und jetzt floß es in die andere Richtung. Ihr fehlten die Worte, solange sie unschlüssig über das Jetzt war.
»Und das ist noch gar nichts«, fügte Vlad hinzu. Wolkenfetzen kräuselten sich hinter ihnen, als er nach vorn raste.
Die Wolken verschwanden. Sie mochten so dünn wie Rauch gewesen sein, aber ihre Präsenz – ihre Illusion von Festigkeit – war ein Trost gewesen. Jetzt zeigten sie sich nur noch als eine Andeutung in der Ferne, und tief unten sah Agnes die Ebenen im Mondschein.
»Ghjgh«, gurgelte sie. Anspannung und Schrecken hinderten sie daran zu schreien. Huiii! juchzte Perdita in ihr.
»Na?« fragte Vlad. »Siehst du das Licht am Rand?«
Die Sonne schwebte unter der Scheibenwelt, doch am dunklen Rand drang ihr Licht durch den endlosen Wasserfall. Es entstand ein glühendes Band zwischen dem von der Nacht umschmiegten Ozean und den Sternen. Es war ein beeindruckender Anblick, doch Agnes dachte daran, daß die Schönheit den Betrachter noch weitaus mehr überwältigte, wenn er auf festem Boden stand. In einer Höhe von mehreren Kilometern neigte das Auge des Betrachters zum Tränen.
Perdita fand das Panorama wunderschön. Agnes fragte sich: Wenn Agnes als purpurner Fleck auf den Felsen tief unten endete – würde Perdita dann weiter existieren?
»Alles was du willst«, flüsterte Vlad. »Für immer.«
»Ich möchte nach unten«, sagte Agnes.
Er ließ los.
Agnes’ Figur hatte zumindest einen Vorteil: Sie eignete sich gut zum
Fallen. Sie drehte sich automatisch so, daß ihr Bauch nach unten wies, und mit wehendem Haar schwebte sie im fauchenden Wind.
Seltsamerweise wich der Schrecken aus ihr. Er war mit einer Situation verbunden gewesen, die sie nicht kontrollieren konnte. Während sie jetzt mit ausgebreiteten Armen fiel, während der lange Rock um ihre Beine flatterte und ihre Augen tränten, konnte sie wenigstens sehen, was die Zukunft brachte, obgleich die Auswahl nicht besonders groß war.
Vielleicht fiel sie auf eine weiche Schneewehe oder in tiefes Wasser…
Vielleicht wäre es einen Versuch wert gewesen, sagte Perdita. So übel ist er eigentlich gar nicht.
»Sei still.«
Dann müßtest du nicht damit rechnen, auf den Felsen zu zerplatzen wie ein mit Wasser gefüllter Ballon…
»Du sollst still sein. Außerdem sehe ich da einen See. Vielleicht kann ich meine Flugbahn so beeinflussen, daß ich in seine Richtung fliege.« Bei dieser Geschwindigkeit spielt es kaum eine Rolle, ob du auf Wasser oder harten Boden prallst.
»Woher willst du das wissen?«
Das ist allgemein bekannt.
Vlad erschien neben Agnes und schwebte in der Luft, als läge er auf einem Sofa.
»Gefällt’s dir?« fragte er.
»Bisher ja«, antwortete Agnes, ohne ihn anzusehen.
Sie spürte, wie er sie am Handgelenk berührte. Sie fühlte keinen Druck, aber der Fall stoppte ganz plötzlich. Erneut wurde sie so leicht wie die Luft.
»Warum machst du das?« fragte sie. »Wenn du mich beißen willst, bring es endlich hinter dich!«
»Oh, das kommt überhaupt nicht in Frage!«
»Ihr habt Oma gebissen und ihr Blut getrunken!« stieß Agnes hervor. »Ja, aber wenn das gegen den Willen der Leute geschieht, sind sie
nachher so… unterwürfig und kaum mehr als denkende Nahrung. Doch jemand, der sich aus freiem Willen für die Nacht entscheidet… Das ist eine ganz andere Sache, liebe Agnes. Und du bist viel zu interessant, um eine Sklavin zu sein.«
»Sag mal…«, brummte Agnes, als ein Berggipfel vorbeiglitt, »hattest du viele Freundinnen?«
Vlad zuckte mit den Schultern. »Ein oder zwei. Aus dem Dorf. Hausmädchen.«
»Und darf ich fragen, was mit ihnen geschehen ist?«
»Sieh mich nicht so an. Wir beschäftigen sie immer noch im Schloß.« Agnes verachtete ihn. Perdita haßte ihn nur. Haß ist das Gegenteil von Liebe und genauso attraktiv.
… aber Nanny meinte, wenn es zum Schlimmsten kommt… dann wird er dir vertrauen… und sie haben bereits Oma erwischt…
»Wenn ich ein Vampir bin, kann ich nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher