Ruht das Licht
Bruder«, sagte Grace.
John sah in seine Kaffeetasse. »Ach, ich weiß nicht. Na ja, ich muss jetzt jedenfalls wieder los. Ich war auf dem Weg in die Schule.«
»Schule am Samstag?«
»Ja, so AG-Kram«, erklärte John. »Gibt Extrapunkte. Und bringt mich auf andere Gedanken.« Er rutschte von der Bank und kramte ein bisschen Kleingeld für seinen Kaffee aus der Tasche. »Könnt ihr das der Bedienung geben?«
»Klar«, sagte Grace. »Wir sehen uns, ja?«
John nickte und wandte sich ab. Er war gerade aus der Tür, als Isabel auch schon wieder in die Mitte der Bank rückte und Grace anstarrte.
»Mann, Grace, du hast mir ja nie erzählt, dass du ohne Hirn auf die Welt gekommen bist«, stöhnte sie. »Denn das ist die einzige Erklärung, die mir dafür einfällt, dass du so was abgrundtief Dämliches machen würdest.«
Ich hätte es etwas anders ausgedrückt, aber im Grunde dachte ich dasselbe.
Grace winkte ab. »Jetzt komm mal wieder runter. Ich hab sie geschickt, als ich das letzte Mal in Duluth war. Ich wollte ihnen einfach ein bisschen Hoffnung geben. Und außerdem dachte ich, dass die Polizei vielleicht nicht mehr ganz so genau suchen würde, wenn klar wäre, dass sie nur eine ganz normale Ausreißerin ist, fast volljährig noch dazu, und weder gekidnappt noch ermordet wurde. Siehst du, ich hab wohl ein Hirn.«
Isabel schüttete sich ein bisschen Müsli in die Hand. »Also, ich finde, du solltest dich da raushalten. Sam, sag ihr, dass sie sich da raushalten soll.«
Das Ganze beunruhigte mich zwar auch ziemlich, aber ich sagte: »Grace weiß schon, was sie tut.«
»Grace weiß schon, was sie tut«, wiederholte Grace an Isabel gewandt.
»Meistens jedenfalls«, fügte ich hinzu.
»Vielleicht sollten wir ihn einweihen«, schlug Grace nachdenklich vor.
Isabel und ich starrten sie an.
»Was denn? Er ist immerhin ihr Bruder. Er liebt sie und er will, dass sie glücklich ist. Außerdem verstehe ich nicht, was die ganze Heimlichtuerei soll, wo es doch eine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt. Gut, die meisten Leute würden es wahrscheinlich trotzdem nicht verstehen. Aber die Familie? Denen würde es doch bestimmt besser gehen, wenn sie wüssten, dass es ganz logisch ist und überhaupt nichts mit Monstern oder so zu tun hat.«
Ich konnte das Grauen, das diese Vorstellung in mir weckte, gar nicht in Worte fassen. Ich konnte noch nicht mal sagen, warum der Gedanke daran mir solche Angst einflößte.
»Sam«, sagte Isabel und mir wurde bewusst, dass ich dasaß und mit dem Finger über die Narbe an einem meiner Handgelenke rieb. Isabel sah Grace an. »Grace, das ist die dümmste Idee, die ich je gehört habe, es sei denn, du legst es darauf an, dass Olivia unter dem nächsten Mikroskop landet und mit allen möglichen Instrumenten malträtiert wird. Mal ganz abgesehen davon, dass John gerade viel zu sehr durch den Wind ist, um das Ganze überhaupt zu begreifen.«
Zumindest das ergab auch in meinem Kopf Sinn. Ich nickte. »Ich glaube nicht, dass wir ausgerechnet ihn einweihen sollten, Grace.«
»Isabel hast du doch auch eingeweiht!«
»Da hatten wir ja auch keine andere Wahl«, verteidigte ich mich, bevor Isabel ihr selbstzufriedenes Gesicht fertig aufgesetzt hatte. »Sie hatte sich das Meiste ja eh schon selbst zusammengereimt. Ich glaube, wir sollten danach gehen, wem wir es wirklich sagen müssen. « Grace’ Gesicht wurde immer ausdrucksloser, was bedeutete, dass sie sauer war. Also lenkte ich ein: »Aber ich finde trotzdem, dass du weißt, was du tust. Meistens.«
»Meistens, ja«, bestätigte Isabel. »So, ich muss hier weg. Bevor ich noch für immer an dieser fiesen Bank kleben bleibe.«
»Isabel«, sagte ich, als sie aufstand, und sie drehte sich noch einmal um und warf mir einen verwirrten Blick zu, als hätte ich sie noch nie bei ihrem Namen genannt. »Ich will ihn begraben. Den Wolf. Vielleicht gleich heute, wenn der Boden nicht gefroren ist.«
»Nur keine Eile«, erwiderte Isabel. »Der läuft nicht mehr weg.« Grace drehte sich zu mir und wieder wehte ein Hauch von diesem Verwesungsgeruch zu mir herüber. Ich wünschte, ich hätte mir das Foto auf Isabels Handy genauer angesehen. Ich wünschte, es wäre offensichtlicher, wie dieser Wolf zu Tode gekommen war. In meinem Leben hatte es schon genug Geheimnisse gegeben.
KAPITEL 8
SAM
Ich war ein Mensch. Am Tag, nachdem ich den Wolf begraben hatte, war es eisig, der typische Minnesota-März in all seiner vergänglichen Pracht: An einem Tag
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